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22 Einleitung
auf dem Opferbegriff oder aber stärker auf dem Heldenbegriff beruhen. Sie konnte
sich in expliziter Abgrenzung von den Veteranenvereinen, Kameradschaftsverbänden
und Heimkehrervereinigungen entwickeln, sodass hier – pointiert formuliert – von
einer Organisierung der Opfer versus einer Organisierung der Helden zu sprechen ist ;
sie konnte sich aber auch – besonders wenn das Kriegserlebnis als identitätsstiftende
Erfahrung in den Vordergrund trat – in betonter Kooperation mit den Veteranenver-
einen entfalten. Auch wenn diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist, so ist doch
gewiss, dass die Identität als Kriegsopfer für das einzelne Individuum eine unter vielen
Identitäten gewesen ist. Sie war zudem stark mit der Zugehörigkeit zu einem Verband
verknüpft und lässt sich daher wohl treffender als Rolle bezeichnen.18
Der „organisierte“ Kriegsbeschädigte wurde – insbesondere in den Anfangsjahren
der jungen Republik
– jedenfalls zur Norm. Unmittelbar nach dem Kriegsende fühlten
sich vor allem die männlichen Kriegsbeschädigten ihren Vereinen eng verbunden und
wiesen einen hohen Grad an Mobilisierungsfähigkeit auf. Wenn im Folgenden also
die Interaktionen zwischen Staat und Kriegsopfern interessieren und die Akteure kon-
kret benannt werden, so sind es auf der einen Seite die Kriegsopferverbände, die sich
nach 1918 zu mächtigen Gegenspielern des Staates entwickelten. Auf der einen Seite,
der des Staates, finden sich die verschiedenen Verwaltungskörper und repräsentativen
Organe – diverse Behörden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene, zivile und
militärische Einrichtungen, das Parlament und die Regierung. Für die gemeinsame
Kriegsbeschädigtenversorgung der Doppelmonarchie war bis zum Ende des Krieges
das k. u. k. Kriegsministerium, für die diese Versorgung ergänzende Kriegsbeschädig-
tenfürsorge der österreichischen Reichshälfte bis Ende 1917 das k. k. Ministerium des
Innern zuständig. Von diesem wanderten die Agenden der Kriegsbeschädigtenfür-
sorge dann an das – nach Abschluss eines mühevollen Prozesses der Institutionalisie-
rung sozialer Agenden19 neu gegründete – k. k. Ministerium für soziale Fürsorge, das
sich nach dem Ende des Krieges in das Staatsamt für soziale Fürsorge umwandelte,
18 Es gibt auch die umgekehrte Argumentation, nach der Kriegsbeschädigte sich angesichts ihres beson-
deren Status’ immer als „eine Klasse für sich“ sahen ; so Deborah Cohen, Kriegsopfer, in : Rolf Spilker/
Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914–1918. Eine Ausstellung
des Museums Industriekultur Osnabrück im Rahmen des Jubiläums „350 Jahre Westfälischer Friede“. 17.
Mai–23. August 1998. Katalog, Bramsche 1998, S.
216–227, hier S. 227. Besonders Gerber beschäftigte
sich mit der Frage der Gruppenidentität bei Kriegsbeschädigten ; David A. Gerber, Disabled Veterans,
the State, and the Experience of Disability in Western Societies, 1914–1950, in : Journal of Social His-
tory, 36 (2003) 4, S. 899–916.
19 Brigitte Pellar, „Arbeitsstatistik“, soziale Verwaltung und Sozialpolitik in den letzten zwei Jahrzehnten
der Habsburger Monarchie. Das arbeitsstatistische Amt im k. k. Handelsministerium und sein „ständiger
Arbeitsbeirat“, in : Margarete Grandner/Gerald Stourzh (Hg.), Historische Wurzeln der Sozialpartner-
schaft (= Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 12/13), Wien 1986, S. 153–190.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918