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24 Einleitung
hafte Sterben im Ersten Weltkrieg das bis dahin uneingeschränkt geltende patriar-
chale Familienkonzept unter massiven Auflösungsdruck geraten ließ. Je mehr Männer
durch den Fronteinsatz ihre zivilen Positionen verlassen mussten und starben oder
verstümmelt zurückkehrten, umso stärker kam das Geschlechterverhältnis in Bewe-
gung.21 In der österreichischen Praxis schlug sich dieser Geschlechterrollenkonflikt
beispielsweise in der Umsetzung des Invalidenbeschäftigungsgesetzes von 1920 nieder.
Aus den Akten des Ministeriums für soziale Verwaltung geht hervor, dass Unterneh-
men den Ausfall der männlichen Arbeitskräfte infolge ihrer Einberufung zum Militär
durch den Einsatz von Frauen in einer für sie offenbar äußerst zufriedenstellenden
Weise kompensiert hatten. Nach dem Krieg zeigten Arbeitgeber dann in vielen Fällen
nur geringe Bereitschaft, anstelle der Frauen invalide ehemalige Soldaten einzustel-
len – wozu sie das genannte Gesetz aber zwang. Innerhalb der Kriegsopferverbände
wurde hingegen versucht, etwaige Interessenkonflikte zwischen den Kriegsbeschädig-
ten und den
– häufig als Kameradinnen angesprochenen
– Kriegerwitwen weitgehend
zu neutralisieren.
1.1.5 Zeitliche, räumliche und andere Grenzen
In zeitlicher Hinsicht umfasst die Untersuchung die Periode vom Beginn des Ersten
Weltkrieges bis zum Ende der Ersten Österreichischen Republik. Der größere histori-
sche Rahmen – vom General-Invaliden-System Maria Theresias im Jahr 1750 bis zur
Betreuung der letzten Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs, mit der die österreichi-
schen Bundessozialämter noch heute beschäftigt sind – bildet die Folie, vor der eine
Beurteilung der Kriegsopferfürsorge vor und nach 1918 erst möglich ist. Innerhalb
des genannten Zeitraums von 1914 bis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche
Reich im Jahr 1938 liegt der Schwerpunkt der Studie auf der Kriegszeit und den ers-
ten Nachkriegsjahren bis 1923. 1923 kann in mehrerlei Hinsicht als ein Wendepunkt
bezeichnet werden : Die Neuordnung der Kriegsopferversorgung nach dem Ende des
Krieges ist nicht allein als Reaktion der Politik auf die hohen Opferzahlen zu verste-
21 Karin Hausen, Die Sorge der Nation für ihre „Kriegsopfer“. Ein Bereich der Geschlechterpolitik wäh-
rend der Weimarer Republik, in : Jürgen Kocka (Hg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozi-
alstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München-London-Paris 1994, S.
719–739.
Siehe in diesem Zusammenhang auch Oswald Überegger, Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Ös-
terreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit (= Tirol im Ersten Weltkrieg : Poli-
tik, Wirtschaft und Gesellschaft 9), Innsbruck 2011, dessen mikrohistorische Studie weder das Ergebnis
einer Männlichkeitskrise noch die Brutalisierungsthese bestätigen kann ; Christa Hämmerle, „Vor vier-
zig Monaten waren wir Soldaten, vor einem halben Jahr noch Männer …“. Zum historischen Kontext
einer „Krise der Männlichkeit“ in Österreich, in : L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichts-
wissenschaft, 19 (2008) 2 : Krise(n) der Männlichkeit, S. 51–73.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918