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48 Einleitung
den […]. Gar oft gehen an uns Kriegsinvalide vorüber, denen man ihr Leiden nicht ansieht,
welche Kopf- oder Lungenschüsse haben oder Epileptiker sind. Und sind jene, welche am
Schlachtfeld erkrankten und unter ständigem Siechtum leiden, nicht auch Kriegsinvalide ?“123
In jedem anderen Krieg vor dem Ersten Weltkrieg waren mehr Soldaten durch Krank-
heiten als durch Kriegshandlungen ums Leben gekommen. Durch die unbestrittenen
medizinischen Fortschritte zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten nun erstmals die
klassischen älteren Kriegsseuchen124 zurückgedrängt werden. Doch es blieb als zentra-
les Problem die Tuberkulose, die zu einem beträchtlichen Prozentsatz für die Zahl der
Kriegsbeschädigten verantwortlich war. Wenn etwa Ignaz Kaup, Sektionschef im Mi-
nisterium für Volksgesundheit, 1918 konstatierte, dass unter den innerlich erkrankten
Soldaten, die knapp die Hälfte aller Kriegsbeschädigten stellten, 90 % an Tuberkulose
litten,125 so kann man den außerordentlich hohen Anteil der Tuberkulösen unter den
Kriegsbeschädigten leicht ermessen. Daneben gab es noch zahlreiche andere Erkran-
kungen. Breit diskutiert wurde schon während des Krieges das erschreckende Phänomen
der Kriegsneurosen,126 auf deren Auftreten das Militär und die Medizin genauso wenig
vorbereitet waren wie auf die Massenkrankheit Tuberkulose. Es war offensichtlich :
„Einer sehr großen Zahl von Heimkehrenden kann durch Prothesen und Apparate aller Art
unmittelbar nicht geholfen werden […]. Es sind das die Tausende, deren Herz, Lungen und
123 AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1358, 4941/1918, K.E.G, Kriegsinvaliden-Erwerbs-Genossenschaft
Salzburg, Salzburg o. J., S. 21. Die Genossenschaft argumentiert in der Folge dafür, bei Fürsorgemaß-
nahmen nicht bloß der sichtbar Kriegsbeschädigten zu gedenken : „Das Mitleid darf wohl auf alle
Invalide gleich verteilt werden, sei er nun amputiert, gelähmt oder krank. Unsere Fürsorge darf nicht
allein jene betreffen, denen wir im Rollstuhl begegnen, die sich auf Krücken weiterschleppen, oder
deren Rockärmel leer herabhängt, unsere Fürsorge muß allen gelten […].“
124 Elisabeth Dietrich, Der andere Tod. Seuchen, Volkskrankheiten und Gesundheitswesen im Ersten
Weltkrieg, in : Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Erste Weltkrieg, Innsbruck-Wien
1995, S. 255–275. „Wenn es auch Dank der Fortschritte der Wissenschaft und der hygienischen Vor-
kehrungen gelungen ist, die aus früheren Kriegen bekannten Kriegsseuchen zu bannen, so haben sich
doch andere Krankheiten in ganz erschreckender Anzahl gemehrt. Wenn wir auch von verschiedenen
rheumatischen und gichtischen Leiden, sowie von der grossen Anzahl der Herzkranken absehen […],
so bleibt die täglich wachsenden, ungeheuere Zahl der Lungenkranken und Tuberkulosen, dann die der
Nierenkranken und schliesslich die der Geisteskranken übrig.“ AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1358,
3848/1918, Vorschlag zur Ausgestaltung der Kriegsbeschädigtenfürsorge eingelangt am 1.2.1918 von
Hauptmann Karl Eger in Leitmeritz, S. 16f.
125 Ignaz Kaup, Kriegsbeschädigtenfürsorge und Sozialhygiene, in : Wiener Medizinische Wochenschrift,
68 (1918) 41, Sp. 1789–1797, hier Sp. 1791.
126 Georg Hofer, „Nervöse Zitterer“. Psychiatrie und Krieg, in : Helmut Konrad (Hg.), Krieg, Medizin und
Politik. Der Erste Weltkrieg und die österreichische Moderne (= Studien zur Moderne 10), Wien 2000,
S. 15–134, bes. S. 32–35.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918