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59Unzulänglichkeiten
trotz neuer Prinzipien : Die Militärversorgung bei Kriegsbeginn
lich in den Bestimmungen des Militärversorgungsgesetzes von 1875, in welchem außer der
Gewährung von Invalidenpensionen nur noch die Beschaffung von einfachen Stelzfüssen,
künstlichen Augen u. dgl. vorgesehen war.“24
Diese Einschätzung zeigt, dass es bereits im Krieg evident wurde, wie völlig unzurei-
chend dass das System zur Versorgung der Kriegsbeschädigten war. Was lässt sich nun
aber aus der Tatsache schließen, dass weder für Wehrpflichtige noch für deren Hin-
terbliebene eine ausreichende Versorgung im Fall von Invalidität bzw. Tod vorgesehen
war ? Was lässt sich auf dieser Basis über das Verhältnis von Staat und Bürger sagen ?
Die eigene Erfahrung mit dem europäischen Modell des Sozialstaates im 20. Jahr-
hundert führt sehr leicht dazu, die eben beschriebenen Versorgungsregelungen vor
allem über ihre Defizite zu erklären. Bei der Analyse sticht viel eher das ins Auge, was
fehlt, während das, was tatsächlich neu ist, schwer wahrnehmbar ist. Dabei übersieht
man, dass in Österreich-Ungarn bis ins 20. Jahrhundert hinein die Sozialfürsorge in
den Händen der Gemeinden lag.25 Basis für die Inanspruchnahme jeglicher Form
der Unterstützung war daher nicht die Staatsbürgerschaft, sondern das Heimatrecht.
Vor diesem Hintergrund bildete die Staatsbürgerschaft kaum mehr als eine „Drauf-
gabe“ auf das Heimatrecht, und tatsächlich existierte die Staatsbürgerschaft zunächst
nur im Verband mit dem Heimatrecht. Jede in einer österreichischen Gemeinde
heimatberechtigte Person war automatisch auch österreichischer Staatsbürger oder
österreichische Staatsbürgerin, während es umgekehrt nicht möglich war, die öster-
reichische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne gleichzeitig in den Verband einer
österreichischen Gemeinde aufgenommen zu werden.26 Grundlage für einen – meist
ohnehin nur sehr theoretischen – Anspruch auf Versorgung bildete nicht die durch
die Staatsbürgerschaft definierte Zugehörigkeit zum „großen Ganzen“, zum Staat
also, sondern die durch das Heimatrecht bestimmte lokale Zuordnung zu einem Ge-
meindeverband.27
24 AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1356, 1244/1918.
25 Josef Wysocki, Die österreichische Finanzpolitik, in : Peter Urbanitsch/Adam Wandruszka (Hg.), Die
wirtschaftliche Entwicklung (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918 1), Wien 1973, S. 68–104.
26 Das Staatsgrundgesetz von 1867 versprach zwar ein Staatsbürgerschaftsgesetz. Im Gegensatz zur un-
garischen Reichshälfte, wo ein solches Gesetz im Jahr 1879 erlassen wurde, wurde dieses Versprechen
jedoch nie eingelöst. Die Regelung der österreichischen Staatsbürgerschaft basierte daher weiter auf
dem ABGB von 1811 und verschiedenen Hofdekreten ; siehe Hannelore Burger, Passwesen und Staats-
bürgerschaft, in : Waltraud Heindl/Edith Saurer (Hg.), Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft,
Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750–1867), Wien 2000,
S. 3–172, bes. S. 168ff.
27 Harald Wendelin, Schub und Heimatrecht, in : Heindl/Saurer, Grenze und Staat, S. 173–346, bes.
S. 181ff.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918