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68 Die Gesetzgebung der Monarchie
„MdE“ verselbstständigt und die „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ den Charakter
einer Recheneinheit angenommen.
Das Militärversorgungsgesetz von 1875 kannte ja lediglich den ganz allgemein
gehaltenen Begriff einer bürgerlichen Erwerbsunfähigkeit als eine der Voraussetzun-
gen für die Zuerkennung einer Invalidenpension, eine Definition des Begriffes der
Erwerbsfähigkeit findet sich in dem Gesetz aber nicht. Nur ansatzweise wurden kör-
perliche Schäden durch die Staffelung der Höhe der Verwundungszulage in Abhän-
gigkeit von der erlittenen Verletzung bewertet, ein Bezug zum Zivilberuf des Verwun-
deten wurde nicht hergestellt.53 Auch die zu Beginn des Ersten Weltkrieges in Kraft
stehende Superarbitrierungsvorschrift aus dem Jahr 1885 trug nichts zu einer Präzi-
sierung dieses Begriffes bei.54 Da es aber nach Beginn des Ersten Weltkrieges offen-
bar zu massiven Problemen gekommen war, nachdem Kriegsdienstpflichtige als zwar
„invalid“, aber „bürgerlich erwerbsfähig“ entlassen worden waren, und damit keinen
Anspruch auf die nach dem Militärversorgungsgesetz von 1875 vorgesehene Invali-
denpension erheben konnten, sah sich die Militärbürokratie veranlasst zu handeln. Die
äußerst restriktive Vorgangsweise der Superarbitrierungskommissionen, die offenbar
darauf angelegt war, die Zahl der Bezieher von Invalidenpensionen gering zu halten,55
wurde durch eine fundamentale Änderung des Militärversorgungssystems entschärft :
Im Jänner 1915 hatte das Kriegsministerium einen Erlass herausgegeben, der die Su-
perarbitrierungskommissionen anwies, die Erwerbsfähigkeit künftig in Prozenten
53 RGBl 1875/158, §§ 92–94. Zu den Verletzungskategorien siehe FN 14 in Kapitel 2.1.
54 Die Superarbitrierungskommissionen hatten bis 1915 lediglich darüber zu befinden, ob ein Begutach-
teter a) tauglich, b) bedingt tauglich, c) derzeit untauglich, d) zum Truppendienst untauglich, zu leich-
teren Diensten geeignet, oder e) invalid war. Darüber hinaus mussten die Kommissionen feststellen, ob
eine als invalid klassifizierte Person „bürgerlich erwerbsfähig“ oder „bürgerlich erwerbsunfähig“ war ;
Superarbitrierungs-Vorschrift für die Personen des k. k. Heeres, vom Jahre 1885 (Ergänzt bis Ende Ap-
ril 1897), Wien 1897, S. 36. Die Superarbitrierung befand über die Diensttauglichkeit, eingeschränkte
Diensttauglichkeit bzw. Dienstuntauglichkeit von Soldaten sowie den Anspruch auf Versorgungsge-
bühren. Ihr Zweck war nun – mit Blick auf die aufgrund der Wehrpflicht eingezogenen Soldaten – „die
kommissionelle Konstatierung des Vorhandenseins und des Grades der angegebenen Gebrechen, dann
des Einflusses derselben auf die Eignung des Mannes zu Militärdiensten, beziehungsweise auf dessen
Erwerbsfähigkeit sowie des gesetzlichen Anspruchs auf eine, und zwar auf welche Versorgungsgebühr.“
Superarbitrierungsvorschrift für die Personen des k. u. k. Heeres vom Jahre 1885 (Neu durchgesehen),
Wien 1915, § 39.
55 Dieser Schluss lässt sich aus dem Erlass des MfLV v. 15.2.1915, Dep. Xa Nr. 1218 (Beiblatt zum Verord-
nungsblatt für die k. k. Landwehr, Wien 1915, Nr. 7), ziehen. Der Erlass wird mit den Worten eingeleitet :
„Anläßlich vorgekommener Fälle, daß dienstuntauglich gewordene, einer besonderen Pflege zwar nicht
mehr bedürftige, aber noch nicht im Vollbesitze der Erwerbsfähigkeit stehende Mannschaftspersonen
im Superarbitrierungswege ohne Invalidenpension beurlaubt, beziehungsweise entlassen wurden, wird
verfügt : […].“
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918