Seite - 69 - in Die Wundes des Staates - Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Bild der Seite - 69 -
Text der Seite - 69 -
69Der
normative Rahmen der Kriegsbeschädigtenversorgung während des Krieges
auszudrücken,56 und einen Monat später folgte das Landesverteidigungsminis terium.
So wurden also die Superarbitrierungskommissionen bereits vor der Veröffentlichung
der Verordnung über die staatlichen Unterstützungen vom Juni 1915 angewiesen,
künftig die Erwerbsbeeinträchtigung bei Superarbitrierten in Prozenten anzugeben.
Eine Erwerbsfähigkeit im Sinne des Militärversorgungsgesetzes sei, hieß es in den
Erlässen von Kriegs- und Landesverteidigungsministerium, nur dann gegeben, wenn
eine geringe Minderung der Erwerbsfähigkeit von weniger als 20 % vorliege. Er-
staunlicherweise ist in der Militärbürokratie keinerlei Anstrengung erkennbar, bei der
Schaffung dieser neuen Bewertungsrichtlinie auf allenfalls vorhandenes Know-how
der Experten des Unfallversicherungswesens zurückzugreifen,57 insbesondere blieb die
Beurteilung der Erwerbsfähigkeit den Militärärzten vorbehalten. Mit einem weiteren
Erlass des Landesverteidigungsministeriums erfuhr der Begriff der Erwerbsfähigkeit
schließlich eine nochmalige Präzisierung. Im August 1915 wurde verfügt, dass von nun
an zwischen einer Verminderung der Fähigkeit zur Ausübung des bisherigen Berufes
und einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeit zu unterscheiden sei. Künftig sollten die
Superarbitrierungsbefunde den Prozentsatz der Berufsunfähigkeit nennen und, wenn
dieser 100 betrug, eine Aussage über die generelle Arbeitsfähigkeit oder -unfähig-
keit treffen, wobei eine „mindestens 20prozentige Berufsunfähigkeit […] der in den
Militärversorgungsgesetzen an verschiedenen Stellen erwähnten ‚Erwerbsunfähigkeit‘
hinsichtlich des Anspruchs auf Pension (Invalidenpension und Verwundungszulagen)
gleichzuhalten“58 sei.
Die Erlässe vom Jänner und August hatten den unmittelbaren Effekt, dass nun eine
bedeutend größere Zahl von Kriegsbeschädigten in den Genuss einer Invalidenrente
kam. Darüber hinaus markieren sie aber, indem Kriegsbeschädigte ab dem zweiten
Kriegsjahr nicht mehr in Bezug auf einen – wie immer objektivierbaren – körperli-
chen Schaden hin klassifiziert wurden, sondern in Bezug auf ihren vor der Einrückung
ausgeübten Beruf, auch den Beginn eines prinzipiell neuen Blicks auf das Phäno-
men der Kriegsbeschädigung von Wehrpflichtigen. Wie dieses System in der Praxis
tatsächlich funktionierte, ist nicht ganz klar. Es gab keinen „Katalog“, der etwa eine
56 Erlass des KM v. 22.1.1915, Abt. 9 Nr. 17094 ex 1914, zit. nach AT-OeStA/AdR BMfsV Kb, Kt. 1359,
7950/1918.
57 Dass dieses Wissen zweifellos vorhanden war, zeigt die umfangreiche Literatur zu dem Thema, vgl.
exemplarisch Paul Dittrich, Praktische Anleitung zur Begutachtung der häufigsten Unfallschäden der
Arbeiter, Wien 1901 ; Dittrich gibt auch einen Überblick über die zeitgenössische Fachliteratur zur Be-
gutachtung von Unfallverletzten.
58 Erlass des MfLV v. 11.8.1915, Dep. Xa Nr. 8893, zit. nach Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1918,
Beilage Nr. 993. Die Klassifikationen lauteten : „X Prozent berufsunfähig“, „100 Prozent berufsunfähig,
arbeitsfähig“, „arbeitsunfähig“.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918