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normative Rahmen der Kriegsbeschädigtenversorgung während des Krieges
wenn der Gesetzgeber bei dieser Differenzierung andere Berufsgruppen – insbeson-
dere höher qualifizierte
– vor Augen gehabt hatte. Deutlich wird dies beispielsweise in
einer Debatte im Abgeordnetenhaus im März 1918, in deren Verlauf ein Redner als
Beispiel für die Unterscheidung von Berufs- und Arbeitsunfähigkeit einen Musiker
anführte. Erleide dieser „eine kleine Fingerverletzung“, so sei er zu 100 % berufsun-
fähig, seine Arbeitsfähigkeit sei aber nur sehr gering eingeschränkt.62 Das Abstellen
der Versorgungsansprüche auf die Berufs- und nicht auf die Arbeitsfähigkeit kann so-
mit als Ergebnis der Einbeziehung höher qualifizierter Schichten in den Militärdienst
verstanden werden. Dennoch scheint es nicht ganz richtig zu sein, dass – wie Michael
Geyer ebenfalls behauptet – der Anspruch auf Versorgung nur vor dem Hintergrund
formuliert werden konnte, dass der Militärdienst durch die allgemeine Wehrpflicht
zu einer „Arbeit“ für den Staat wurde, also nicht mehr Dienst war, sondern Ergebnis
eines „Arbeitskontraktes“ mit dem Staat.63 Das Verhältnis zwischen dem Soldaten-
Staatsbürger und dem Staat ist nämlich gerade kein privatrechtliches, wie dies der Be-
griff des „Arbeitskontraktes“ nahelegt. Es beruht weder auf Freiwilligkeit, noch wird
die gelieferte Leistung entlohnt. Statt dessen wird vom Staat bestenfalls eine – um in
dieser Terminologie zu verbleiben
– Aufwandsentschädigung gezahlt, während auf der
anderen Seite der Einsatz des Staatsbürgers nicht weniger als sein Leben ist
– erstaun-
lich genug, dass sich eine derartige Beziehung historisch durchsetzen konnte.
2.4.3 Parlamentarische Korrekturen
Nach der Wiedereinberufung des Reichsrates im März 1917 mussten die Abgeordne-
ten jene kaiserlichen Verordnungen, die unter Berufung auf den § 14 des Staatsgrund-
gesetzes von 1867 ohne parlamentarische Zustimmung erlassen worden waren, sank-
tionieren.64 Dazu zählten auch die drei Verordnungen, die die Unterhaltsbeiträge neu
geregelt hatten. Der im Juli 1917 dazu vorgelegte Ausschussbericht ließ an den Re-
gelungen kein gutes Haar. Formale Unzulänglichkeiten, wie das Fehlen der Möglich-
keit, gegen eine Entscheidung einer Unterhaltsbezirkskommission zu berufen, wur-
den ebenso ins Treffen geführt wie die äußerst geringe Höhe der Beiträge und deren
Berechnungsgrundlage. In der parlamentarischen Debatte ließen Redner aller Frak-
62 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 67. Sitzung v. 1.3.1918, S. 3404f. Der Redner war Otto Glöckel, der
spätere sozialdemokratische Unterstaatssekretär für Unterricht (1918–1920). Das Beispiel, das er in der
Rede anführte, ist übrigens eines, das an der Praxis relativ weit vorbeigegangen sein dürfte, denn es ist
nicht anzunehmen, dass eine „kleine Fingerverletzung“ ausgereicht hätte, um als wehrdienstuntauglich
superarbitriert zu werden.
63 Geyer, Vorbote, S. 236.
64 Vgl. FN 34 in Kapitel 2.4.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918