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72 Die Gesetzgebung der Monarchie
tionen mehr oder weniger deutlich durchblicken, dass die Unterhaltskommissionen
die gültigen Bestimmungen äußerst streng, ja oft auch rechtswidrig auslegten.65 Der
Ausschuss hatte daher einen Vorschlag für eine völlige Neuregelung der Unterhalts-
beiträge erarbeitet, den der Berichterstatter des Ausschusses, der sozialdemokratische
Abgeordnete Otto Glöckel, mit folgenden Worten vorstellte :
„Ich habe hier […] ein Gesetz zu vertreten, das in seinen finanziellen Wirkungen weit über
den Rahmen aller bisherigen Beschlüsse dieser Session hinaustritt, das aber auch im Bezug
auf seine moralischen Wirkungen für den Staat die größte Bedeutung erlangen kann.“66
Worin bestanden die hier genannten finanziellen und die moralischen Wirkungen ?
Wodurch unterschied sich das vom Ausschuss erarbeitete und schließlich vom Reichs-
rat 1917 tatsächliche beschlossene neue Unterhaltsbeitragsgesetz67 vom alten ? Zu-
nächst wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten tatsächlich auf die Angehörigen
aller infolge der Wehrpflicht eingezogenen Staatsbürger ausgedehnt, zusätzlich wur-
den auch freiwillig Dienende berücksichtigt. Von einem Bezug ausgeschlossen blieben
lediglich Berufssoldaten, da diese ohnehin vom Militär versorgt wurden. Eine ent-
scheidende Erweiterung des Gesetzes von 1912 ergab sich außerdem dadurch, dass
Angehörige nun nicht mehr nachweisen mussten, dass sie vom Einkommen des Ein-
gerückten abhängig gewesen waren, sondern dass schon der gemäß ABGB grundsätz-
lich bestehende Anspruch auf Alimentation68 ausreichte, um den Anspruch auf einen
Unterhaltsbeitrag zu begründen. Damit wurde hier noch stärker als im Unterhaltsbei-
tragsgesetz von 1912 verdeutlicht, dass es sich bei den gewährten Leistungen weniger
um eine Fürsorgemaßnahme handelte als um einen unabhängig von einer etwaigen
Bedürftigkeit bestehenden Anspruch. In der Parlamentsdebatte vor der Beschlussfas-
sung des Gesetzes hieß es unter anderem : „Wir wollen festhalten, daß das Heer nicht
nur aus Soldaten besteht, sondern daß dazu auch die Familien der Soldaten gehören.“69
Damit ist explizit ausgesprochen, was seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
implizit gegolten hatte : Der Soldat ist dies nur auf Zeit, er steht dem Staat nicht von
Berufswegen zur Verfügung, sondern in Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht,
als Gegenleistung muss sich der Staat aber um die Angehörigen kümmern. Ein wenig
65 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 20. Sitzung v. 14.7.1917, S. 1005–1031.
66 Ebd., S. 1005.
67 RGBl 1917/313.
68 Diesen Anspruch hatten im Wesentlichen die Ehefrau, die Eltern sowie die Kinder des Eingezogenen ;
Rudolf Hornek, Die österreichischen Heimat- und Armengesetzes (= Handbücher für berufliche und
freiwillige soziale Arbeit 1), Wien 1918, S. 151ff.
69 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 20. Sitzung v. 14.7.1917, S. 1005.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918