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73Der
normative Rahmen der Kriegsbeschädigtenversorgung während des Krieges
konterkariert wurde der Anspruchscharakter, den diese Leistung dank Bezug auf das
ABGB erhielt, durch die Zielsetzung des parlamentarischen Ausschusses, das Gesetz
als – wie es wörtlich heißt – „Fürsorgegesetz“70 anzulegen. Den Fürsorgecharakter
könne man – so der Ausschussbericht – daran ablesen, dass nach der neuen Regelung
die Höhe des früheren Verdienstes des Eingerückten keinerlei Einfluss mehr auf die
Höhe der Unterhaltsbeiträge haben solle. Dies war tatsächlich ein entscheidender Un-
terschied zum alten Unterhaltsbeitragsgesetz. Doch ob diese Veränderung wirklich der
beschriebenen Absicht geschuldet war, sei dahin gestellt, relativiert der Ausschuss-
bericht sein Argument doch selbst, wenn dort auch zu lesen ist, dass es vor allem die
Schwierigkeiten bei der Erhebung der tatsächlichen Höhe des früheren Einkommens
gewesen sei, die den Ausschuss veranlasst habe, von einer Berücksichtigung desselben
bei der Berechnung der Höhe der Unterhaltsbeiträge abzusehen.71 Gestaffelt waren
die Zahlungen nur in Bezug auf den Wohnort der Leistungsbezieher : Das Gesetz
führte drei auf die regionalen Differenzen der Lebenshaltungskosten abgestimmte
Sätze von Unterhaltsbeiträgen ein.72
Wie undurchsichtig das Unterhaltsbeitragssystem tatsächlich gewesen sein muss,
zeigt eine Passage aus dem Ausschussbericht zum neuen Gesetz. Dort heißt es :
„Sehr traurig gestaltete sich das Geschick solcher Angehöriger von Soldaten, die nach Aus-
scheidung aus der militärischen Dienstleistung eine mindestens 20prozentige Verminderung
der Erwerbsfähigkeit infolge der militärischen Dienstleistung erlitten ; auch diesen wurde
der Unterhaltsbeitrag nicht gewährt.“73
Diese Behauptung ist unvollständig. Denn gerade für diese Gruppe war die Verord-
nung aus dem Jahr 1915 gedacht gewesen, sollte die Einführung der „staatlichen Un-
terstützungen“ doch solche Personen (Angehörige oder Kriegsbeschädigte) auffangen,
70 Ebd., XXII. Session, 1917, Beilage Nr. 459, S. 3.
71 Ebd.
72 RGBl 1917/313, § 3. Zunächst hatte der Unterhaltsbeitragsausschuss des Abgeordnetenhauses nur zwei
Ortsklassen (einerseits Wien, andererseits alle anderen Regionen) und auch höhere Sätze vorgeschlagen.
Dieser Entwurf wurde auch vom Hauptausschuss des Abgeordnetenhauses einstimmig angenommen.
Dann allerdings versuchte die Regierung, den Gesetzesentwurf mit dem Argument zu kippen, dass der
Staatshaushalt die Belastung durch die infolge des neuen Gesetzes entstehenden Zusatzausgaben nicht
verkraften werde. Der Gegenvorschlag der Regierung sah vor, den aktuell Anspruchsberechtigten einen
einheitlichen Zuschlag auf die zugesprochenen Unterhaltsbeiträge aufzuzahlen. Dies lehnte der Aus-
schuss ab und erarbeitete daraufhin einen neuen Entwurf, der nun drei Ortsklassen und etwas niedrigere
Beiträge vorsah. Dieser Entwurf wurde schließlich im Parlament – gegen den ausdrücklichen Wunsch
der Regierung
– einstimmig beschlossen ; Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 1917, Beilage Nr. 459, S.
3.
73 Ebd., S. 5.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918