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89Resümee
Aus Sicht des Wehrpflichtigen war das Tauschgeschäft Wehr- gegen Versorgungs-
pflicht eines, das eindeutig zu seinem Nachteil ablief. Die Leistungen, die der Staat zur
Verfügung stellte, waren definitiv unzureichend. Weder der Kriegsbeschädigte noch
seine Angehörigen wurden vom Staat in einer Weise versorgt, die als existenzsichernd
bezeichnet werden kann. Das heißt : In der Praxis kam der Staat seiner Pflicht nicht
oder nur ungenügend nach. Entscheidend ist aber, dass dieses Versäumnis sich nicht
daraus erklärt, dass der Staat seine grundsätzliche Verpflichtung negiert hätte, son-
dern vielmehr daraus, dass das System, das die Versorgung der Kriegsbeschädigten
hätte leisten sollen, strukturell nicht in der Lage war, die Anforderungen zu erfüllen.
Das machte für die große Gruppe der Betroffenen zwar keinerlei Unterschied – denn
ob die individuelle Not aus staatlicher Ignoranz oder prinzipieller Unmöglichkeit re-
sultierte, dürfte die Kriegsbeschädigten nicht sonderlich interessiert haben –, für die
weitere Entwicklung, insbesondere für das Verhältnis zwischen Staat und Individuum,
ist diese Feststellung aber sehr wohl von Bedeutung.
Wie oben gezeigt wurde, stellte die Regierung die Legitimität der Ansprüche nie
grundsätzlich infrage, es waren vielmehr einerseits verfassungsrechtliche und anderer-
seits staatsfinanzielle Gründe, die den Ausbau der Kriegsbeschädigtenfürsorge limitier-
ten, Regelungen immer nur auf Basis von Provisorien erlaubten und dafür verantwort-
lich waren, dass nur eingeschränkte Leistungen zur Verfügung gestellt wurden. Bedenkt
man, dass das Staatsbudget bis zum Ersten Weltkrieg den Posten „Sozialausgaben“
nicht kannte und das Steuersystem daher auch einnahmeseitig überhaupt nicht darauf
ausgelegt war, dem Budget die nötigen Summen für solche Ausgaben zuzuführen, so
verwundert es auch nicht weiter, dass es für die Fürsorgemaßnahmen viel zu geringe
Mittel gab. Die Tatsache aber, dass von allen Seiten betont wurde, die Ansprüche wür-
den nur wegen der fehlenden Mittel nicht vollständig befriedigt, weist eindeutig darauf
hin, dass die Ansprüche als solche durchaus anerkannt waren. Zweifellos bedeutete
diese Anerkennung nicht automatisch, dass es auf jeden Fall angemessene Leistungen
gegeben hätte, wenn diese finanzierbar gewesen wären. Als Beweis für die Anerken-
nung reicht aber allein die Tatsache, dass der Staat überhaupt – und sogar erhebliche –
Mittel für die Kriegsbeschädigtenfürsorge zur Verfügung stellte, statt den Standpunkt
einzunehmen, diese Angelegenheit sei nicht seine. Und spätestens mit der Wiederein-
berufung des Reichsrates im Frühling 1917 setzte sich – wenigstens theoretisch – die
Ansicht durch, dass die Höhe der staatlichen Leistungen nicht etwa bloß einem Exis-
tenzminimum entsprechen solle, sondern sich vielmehr an jenem Einkommen orientie-
ren müsse, das der Kriegsbeschädigte vor seinem Einrücken bezogen hatte.120
120 Es sei nur am Rande bemerkt, dass dem Staat damit eine weitere, völlig neuartige Aufgabe zuwuchs,
nämlich sich sehr weitgehend mit der Einkommenssituation seiner Bürger beschäftigen zu müssen.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918