Seite - 94 - in Die Wundes des Staates - Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Bild der Seite - 94 -
Text der Seite - 94 -
94 Die soziale Kriegsbeschädigtenfürsorge im Krieg
„Dieser fehlerhafte Gedanke, daß die Invalidenfürsorge eigentlich nur eine Rentenfürsorge
sei, [kommt] auch in der Gesetzgebung zum Ausdruck, die bei den Kriegsbeschädigten nur
Pensionen, Verwundungszulagen und andere finanzielle Beihilfen gewährt, sie aber im übri-
gen ihrem Schicksale überläßt. Allmählich [hat] sich aber doch die Erkenntnis durchgerun-
gen, daß die Kriegsbeschädigtenfürsorge nicht eine Frage nur des Schadensersatzes, sondern
des Wiederaufbaues der durch die Kriegsereignisse verminderten Arbeitsenergie [HdA] ist.“4
Und aus den Reihen der Parlamentsabgeordneten hieß es fast gleichlautend :
„Die Rente allein […] kann nicht als wesentliches Moment der Invalidenfürsorge gelten,
sondern viel wichtiger wird die Ermöglichung der Erwerbsfähigkeit sein.“5
Solange die Auswirkungen der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht spürbar
gewesen waren, war wohl übersehen worden, dass die finanziellen Aufwendungen für
einen Krieg unter diesem Vorzeichen nicht mehr „nur“ im engeren Sinn militärische
sein, sondern weit darüber hinaus gehen würden. Die militärische Inanspruchnahme
und dann der invaliditätsbedingte Verlust eines großen Teiles des Arbeitskräftepoten-
zials mussten in einem Krieg wie dem Ersten Weltkrieg die gesamte Volkswirtschaft an
den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Der Staat stellte sehr bald fest, dass jeder
berentete Kriegsbeschädigte nicht nur einen Versorgungsfall mehr, sondern gleichzei-
tig auch eine Arbeitskraft weniger bedeutete. Zum einen wollte er aber angesichts des
während des Krieges herrschenden Arbeitskräftemangels auf keine einzige Arbeits-
kraft verzichten,6 zum anderen schien es auch hinsichtlich des Wiederaufbaus nach
dem Krieg nichts anderes als Vernichtung von Arbeitskraft zu sein,7 wollte man die
Kriegsbeschädigten unberücksichtigt lassen.
Gertrude Enderle-Burcel/Michaela Follner, Diener vieler Herren. Biografisches Handbuch der Sekti-
onschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945, Wien 1997, S. 115f.
4 K.k. Ministerium für soziale Fürsorge, Mitteilungen über Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Wien 1918
(Wiedergabe einer Rede Gasteigers auf einem großen Kongress über Kriegsbeschädigtenfürsorge in
Wien 16.–19.9.1918), S. 264f.
5 Sten. Prot. AH RR, XXII. Session, 56. Sitzung v. 30.1.1918, S.
2941 (Jankovič). Franz Jankovič war Dis-
triktsarzt, Landeshauptmannstellvertreter der Steiermark und Angehöriger des Kroatisch-slowenischen
Klubs ; ebd., XXII. Session, Mitglieder der XXII. Session, S. 170f.
6 Siehe zu dieser Argumentation vor allem Heather R. Perry, Brave Old World. Recycling der Kriegs-
krüppel während des Ersten Weltkrieges, in : Barbara Orland (Hg.), Artifizielle Körper – Lebendige
Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive (= Interferenzen. Studien
zur Kulturgeschichte der Technik 8), Zürich 2005, S. 147–158.
7 K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen über Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Wien 1915, S. 23.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918