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„Erfindung“ der sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge
gesellschaftspolitisches und gewissermaßen individualpsychologisches. Was gut und
nützlich für Wirtschaft und Gesellschaft war – nämlich die Verwertung der Arbeits-
kraft der Kriegsbeschädigten und die Vermeidung zu hoher finanzieller Leistungen
an diese –, galt als ebenso gut und nützlich für jeden einzelnen Betroffenen, den nur
Arbeit davor bewahrte, das Leben einer unzufriedenen Randexistenz zu führen. Der
Kriegsbeschädigte wurde
– so die leitende Idee
– dann wieder ein vollwertiger Mensch,
wenn er sich und seine Familie durch eigene Erwerbsarbeit erhalten konnte. Dahin
musste er mit allen Mitteln gebracht werden. Der Staat half ihm, seine Rolle als Fa-
milienerhalter wieder einzunehmen, der er durch die Kriegsbeschädigung entweder
gar nicht oder nicht mehr in vollem Umfang gerecht werden konnte. Die berufliche
Reintegration war der Weg, den Kriegsbeschädigten auch gesellschaftlich und familiär
zu reintegrieren.
3.2 Die „Erfindung“ der sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge
Im Bereich der finanziellen Versorgung gab es mit den Regelungen zu Invalidenpen-
sionen, Witwen- und Waisenversorgung sowie Unterhaltsbeiträgen eine ganze Reihe
von Normen, auf die im Laufe des Krieges zurückgegriffen werden konnte ; sie wurden
in mehreren Stufen – mehr schlecht als recht – an die neuen Bedürfnisse angepasst.
Im Bereich der beruflichen Reintegration kriegsbeschädigter ehemaliger Soldaten, der
„sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge“ – so die zeitgenössische Bezeichnung für jenes
weite Feld, das idealtypisch bei der medizinischen Erstversorgung beginnen und der
erfolgreichen Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess enden sollte –, betrat der
Staat dagegen Neuland. Das unüberschaubare Heer von Kriegsbeschädigten, deren
eingeschränkte Erwerbsfähigkeit amtlicherseits prozentgenau festgestellt war, schien
aber auch ganz neue staatliche Maßnahmen zu erfordern. Um aus einem invaliden
Soldaten wieder einen erwerbsfähigen Bürger zu machen, benötigte es begleitende
Maßnahmen. Und so erschöpfte sich die Kriegsbeschädigtenfürsorge spätestens seit
1915 nicht mehr länger in der bloßen Gewährung von Renten und der Finanzierung
einiger weniger Invalidenhäuser, sondern wandte sich der beruflichen Wiedereinglie-
derung von Kriegsbeschädigten, der Erhaltung bzw. Wiedererlangung ihrer Arbeits-
kraft, als zentralem Betätigungsfeld zu. Dass es sich hierbei um eine staatliche Aufgabe
handeln sollte, wurde schon im ersten Kriegsjahr festgelegt : Im August 1915 erließ der
Kaiser jene zentrale Verordnung, in der die Regierung ermächtigt wurde,
„Verfügungen zu treffen, daß Personen […], die während des gegenwärtigen Krieges infolge
Verwundung vor dem Feinde oder infolge dienstlicher Verwendung in ihrer Gesundheit ge-
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918