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100 Die soziale Kriegsbeschädigtenfürsorge im Krieg
Prothesenbeteilung und Arbeitstherapie,19 3. Berufsberatung, 4. Invalidenschulung,
5. Arbeitsvermittlung. Dieses Stufenmodell sollte dem invaliden Soldaten die Mög-
lichkeit geben, zu genesen und mit seiner körperlichen Beeinträchtigung zurecht zu
kommen. War er erst wieder auf dem Arbeitsmarkt untergebracht – oder gar soweit
wieder hergestellt, dass er als militärdiensttauglich neuerlich der Armee zugeführt
werden konnte (was theoretisch nach jedem der genannten Schritte möglich war) –,
dann endete die Zuständigkeit der sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge. Dass manche
Kriegsbeschädigte den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt entweder gar nicht fanden
oder dort angesichts ihrer reduzierten Erwerbsfähigkeit mit unzureichender Entloh-
nung konfrontiert waren, beschäftigte die Landeskommissionen anfangs nicht. Das
Reintegrationskonzept ließ auch die Möglichkeit der bleibenden Invalidität und des
Siechtums mehr oder weniger außer Acht. Die Initiatoren von Heilanstalten, Prothe-
senwerkstätten, Invalidenkursen und Berufsberatungen waren von der optimistischen
Auffassung getragen, dass Kriegsinvalidität durch entsprechende Maßnahmen voll-
ständig kompensiert werden könne. Jeder Mann galt als wieder in das Berufsleben
integrierbar und jeder Körper als wieder herstellbar. Man ging davon aus, dass ein
Kriegsbeschädigter, wenn er einiges an Übung und gutem Willen aufbrachte, nachdem
er geheilt und mit den notwendigen Körperersatzstücken und technischen Hilfen aus-
gestattet worden war, für sein Fortkommen
– zumindest bis zu einem gewissen Grad
–
wieder selbst sorgen konnte. Der feste Glaube an die Wiederherstellbarkeit kriegsbe-
schädigter Soldaten schlug sich auf medizinischem Gebiet in einer technikverliebten
Protheseneuphorie nieder, die die in der Orthopädie zweifellos getätigten Fortschritte
noch beträchtlich überhöhte. Auf dem Gebiet der sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge
fand er seine Entsprechung in der Anschauung, dass für jeden verletzten und dauerhaft
beschädigten Soldaten ein passender Arbeitsplatz zu finden sein müsse, notfalls eben
dadurch, dass die Erwerbsfähigkeit des Mannes durch Schulung gehoben und den
Bedingungen des Arbeitsmarktes – oder noch konkreter : jenen eines bestimmten Ar-
beitsplatzes
– angepasst würde. Mit dem Dogma der Wiederherstellbarkeit verbunden
war das Konzept einer „aggressiven Normalisierung“20 durch physische Regeneration
und berufliches Training. Dieses Konzept korrespondierte mit der von medizinischer
Seite vertretenen Haltung, dass es – so der viel zitierte Satz des deutschen Arztes
Konrad Biesalski
– kein „Krüppeltum“ gebe, wo der „eiserne Wille“ bestünde, dasselbe
als Summe der Aspekte „Nachheilung“ und „Schulung“ beschrieben ; z. B. K.k. Ministerium des Innern,
Mitteilungen, 1915, S. 2.
19 K.k. Ministerium des Innern, Mitteilungen über Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Wien 1917, S. 309.
20 David A. Gerber, Introduction : Finding Disabled Veterans in History, in : David A. Gerber (Hg.), Disa-
bled Veterans in History, Ann Arbor, Mich. 2000, S. 1–51, hier S. 8 und S. 19.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918