Seite - 113 - in Die Wundes des Staates - Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Bild der Seite - 113 -
Text der Seite - 113 -
113Invalidenschulung
nen wieder neuen Lebensmut schöpften, finden sich dort, wo von Schulung und Ar-
beit gesprochen wird. Die Quellen berichten mit einer solchen Vehemenz von der
Invalidenschulung, dass man geneigt ist, dieser Maßnahme eine besondere Bedeutung
beizumessen. Und eine solche hatte sie wohl auch – wenngleich nicht unbedingt in
der Praxis. Die Bedeutung der Invalidenschulung lag eher darin, dass hier ein Modell
entwickelt wurde, das scheinbar Lösungen für ein ganzes Bündel von Problemen zu-
gleich anbot – ein Modell, das Heilung und Wiedergutmachung versprach und daher
der verheerenden Zerstörungskraft des Krieges gegenübergestellt werden konnte. Die
repetitive und gleichsam stereotype Hervorhebung der Invalidenschulung als Mittel
zur Wiederherstellung von Normalität hatte einen geradezu beschwörenden Charak-
ter, was umso stärker auffällt, als es mit Kriegsende dann – fast schlagartig – ruhig um
dieses Thema wurde. Der Überbewertung der Invalidenschulung im Krieg folgte ihr
Absinken in die Bedeutungslosigkeit nach dem Krieg.
Vor 1918 hielten es jedoch alle Verantwortlichen aus volkswirtschaftlichen Gründen
für undenkbar, in Zeiten des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels Arbeitskraft brach
liegen zu lassen. Zudem galt die Invalidenschulung auch aus medizinischen, psycho-
logischen, sozialen und budgetären Gründen als die zentrale Maßnahme innerhalb der
sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge – aus medizinischen, weil sie versteiften Gliedern
zu neuer Beweglichkeit verhalf, aus psychologischen, weil sie mutlose Kriegsbeschädigte,
die sie bei der Wiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit unterstützte, dem Gefühl der
Sinnlosigkeit entriss, aus sozialen, weil sie verhinderte, dass nicht erwerbstätige, nur
von der Rente lebende Kriegsbeschädigte eine instabile gesellschaftliche Randgruppe
bildeten, und aus budgetären, weil sie dem Staat sparen half, der Renten für grund-
sätzlich arbeitsfähige Kriegsbeschädigte niedrig ansetzen durfte. Die Schulung sollte
Kriegsbeschädigte wieder zu produktiven, konkurrenzfähigen und arbeitenden Mit-
gliedern der Gesellschaft machen. Sie ist für das hier zu beschreibende Verhältnis zwi-
schen Staat und Kriegsbeschädigten so bedeutsam, weil sie das Paradebeispiel unter
den Leistungen der sozialen Kriegsbeschädigtenfürsorge darstellt. Neben den anderen
Maßnahmen
– der Heilbehandlung, der Nachbehandlung, der Berufsberatung und der
Arbeitsvermittlung – steht die Invalidenschulung exemplarisch für das Engagement
des Staates in diesem Feld.
Der Staat war Initiator der Ausweitung der Kriegsbeschädigtenfürsorge auf das Ge-
biet der Schulung. Die Staatsverwaltung beabsichtigte, wie schon im Sommer 1915
formuliert wurde, „jenen Männern, welche ihre Person im Kampfe ums Vaterland
eingesetzt und einen Teil ihrer bürgerlichen Erwerbsfähigkeit eingebüßt haben, […]
Beschäftigung zu geben, um ihnen eine neue Grundlage für ihre wirtschaftliche Exis-
tenz zu schaffen, ihr Selbstvertrauen zu heben, damit auch ihren physischen Zustand
zu bessern und ihre allmähliche Wiedereinfügung in das Erwerbsleben durch Besei-
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918