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Nojsi-Sontag Nossi-Sontag
das holdeste, liebenswürdigste und einfachste
deutsche Mädchen; von mittlerer Größe, dem
zierlichsten Wüchse, mit dem lachendsten,
runden Gesichtchen, blauen, sanften, leb-
haften Äugen, blondem Haar und dem ge-
winnendsten Wesen, stets heiter, voll Zaune
und Muthwille, aber von den Grazien umweht
in jeder Bewegung, dabei mit dem besten
Herzen begabt, stets zu helfen bereit, immer
wohlthätig, freundlich, zuvorkommend und
liebreich. Alle Directoren gaben ihr das
Zeugniß, daß sie nie eine gutwilligere, unver»
drossenere Sängerin hatten. Mit dieser bezau»
bernden Persönlichkeit einte sich eine glocken»
helle, klare, liedliche, weiche und umfang-
reiche Siimme und die genügendste musika-
lische Bildung; ihr Vortrag war zugleich im
höchsten Grade präcis, kunstgerecht und nett,
wie herzlich, se^lenvoll und ergreifend; die
höchste Gewandtheit und Kehlenfertigkeit für
verzierten Gesang, wie ein seltener Grad von
Ausdauer war ihr eigen. Eine große Dar«
stellerin war sie nie und für den Ausspruch
tieferschütternder Leidenschaften fehlten ihr die
Mittel; dagegen war sie in Partien, die ihrer
Persönlichkeit zusagten, in launigen, schalb
haften und gemüthlichen Rollen unerreichbar
und unvergleichlich. Die zarteste, duftendste,
süßeste Blume der deutschen Gesangskunst
schwand mit ihr von der Bühne. — Der
durch seine gründlichen und geistvollen Musik»
referate rühmlichst bekannte Musikreferent am
Rdein.L. Bischof, schreibt über Henri ette
N- S.: „Das gegenwärtige Geschlecht, wel'
ches die Leistungen der Künstlerin nur aus
der zweiten Periode ihres Künstlerlebens (als
Gräsin Nossi.S ontag) rVnnt, wird gar
leicht versucht, sie sich auch in ihrer Blüchezeit
nur als reizende Soubrette denken zu kön-
nen. Wer aber die Euryanthe, Agathe,
DeSdemona, Sem i ram is von der
S ontag gesehen hat, der wird mit uns
empfunden haben, daß ein gewisses anmuths'
volles, maßhaltendes, Grazie und Schönheit
nie verletzendes Wesen, welches in ihrer Er-
scheinung in jeglicher Rolle unzertrennlich
war, auch den musikalischen Charakterbildern
ernsterer Gattung in tragischen und leiden»
schaftlichcn Momenten stets das Gepräge der
Weiblichkeit erhielt, welches gar manche hoch»
gepriesene Darstcllerinen heute sehr häufig
vermissen lassen. Eben dadurch btkam Ton
und Vortrag sowohl in getragenen als figu-
rirten Gesangstellen in solchen Situationen,
unterstützt von vollkommenster Reinheit und Correctheit — zwei Dingen, mit welchen es
manche von den gefeierten», sogenannten dra»
malischen Sängerinen nicht immer sehr genau
nehmen — eine eigenthümliche, ergreifende
und doch wohlthuende Färbung. Das Maß«
halten war ihre größte Tugend: zu Knall-
effectcn gab sie sich nie her; auch geben wir
gern zu. daß ihre Stimme dazu nicht aus»
reichte und daß sie den Werth dieses kostbaren
Materiales viel zu gut kannte und viel zu
hoch schätzte, um es dem großen Haufen zu
Ziebe zu vergeuden." — Wesentlich vcrschie»
den, obwohl damals noch nicht durch die
Erscheinung der Jenny L ind, wie daS
später der Fall war. beeinflußt, ist das Ur-
theil eineS britischen Kunstrichters, des Dr.
Granv i l le , das in dessen im Jahre i828
erschienenen Werke: „8t. I'etoi-ädoui'Fd, at
tlie eiass ot 1827" (Petersburg am Schlüsse
des Jahres 1827) abgedruckt steht. Dr. Gra n<
vi l le schreibt unter Anderem: „Aller Augen
und Augengläser richteten sich nach der Bühne^
mit Ungeduld die Erscheinung dieses SternS
erwartend. Sie war dieser Stern, dieser
Komet mit seiner zauberischen Anziehungs«
kraft, Hpnriette Sontag, die königliche
Kammersängerin, die schon vor uns so vielen
Reisenden, wie Poeten und Prosaisten, Son-
nettisten und Journalisten die Kopfe verdreht
hatte. Ihre Schönheit bezauberte mich. Ihr
Gesang aber gefiel mir wohl, doch erfüllte
er nicht me:ne Erwartungen. Ich weiß ihr
Wesen nicht besser als durch den Ausdruck:
„xetits HliLuouus" zu bezeichnen. Ihre Ge<
stalt gleicht der einer Nymphe von C a n o oa
und alle ihre Bewegungen sind so reich an
himmlischer Anmuth und Grazie, daß sie
mehr ein schönes Ideal als cin wirklich kör»
perliches Wesen zu sein scheint. Ihre Füße,
Hände, die Lieblichkeit ihres Gcsichtes, ihr
unaussprechlich reizender Mund, ihre Perlen
gleiche Zähne, ihres holdes Lächeln, die
Fülle ihres dunkelblonden Haares sind von
einer Schönheit, wie sie die höchste Phantasie
sich nicht herrlicher denken kann. Ihre Stimme
ist ungemem anmuthig und sie sin^t mit
einer ganz außerordentlichen Leichtigkeit, aber
mit allen diesen Vorzügen ist sie doch keine
eigentlich große Sängerin. I u ihren Ver»
zierungen besonders zeigt sie, daß eS ihr an
der wahren Methode und Schule fehlt. Den
Ausdruck des Erhabenen hat ihr die Natur
in ihrer Stimme wie in ihrer Persönlichkeit
versagt. Des grandiosen Styls wird Fräulein
Son tag sich niemals bemächtigen können.
Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
Rosenberg-Rzikkowsky, Band 27
- Titel
- Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
- Untertitel
- Rosenberg-Rzikkowsky
- Band
- 27
- Autor
- Constant von Wurzbach
- Verlag
- Verlag der Universitäts-Buchdruckerei von L. C. Zamarski
- Ort
- Wien
- Datum
- 1874
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 13.41 x 21.45 cm
- Seiten
- 386
- Schlagwörter
- Biographien, Lebensskizzen
- Kategorien
- Lexika Wurzbach-Lexikon