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Timo Heimerdinger - Marion Näser-Lather (Hg): Wie kann man nur dazu forschen?#

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Timo Heimerdinger - Marion Näser-Lather (Hg.): Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie. Mit Beiträgen von Christine Bischoff, Karl Braun, Karin Bürkert, Silke Göttsch-Elten, Stefan Groth, Timo Heimerdinger, Kaspar Maase, Lydia Maria Arantes, Marion Näser-Lather, Cornelia Renggli, Jonathan Roth, Mirko Uhlig, Bernd Jürgen Warneken, Jens Wietschorke. Band 29 der Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde. Wien: Verein für Volkskunde Wien 2019. € 24,-

"Wie kann man nur dazu forschen?" fragten sich die TeilnehmerInnen einer Tagung der Universität Innsbruck über "Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie". Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass es bestimmte Themen im "Vielnamenfach" - Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie, empirische Kulturwissenschaft - schwerer haben als andere und die Mechanismen der Auf- bzw. Abwertung. "Das Fach Europäische Ethnologie hat viele, auch sehr produktive Versuche unternommen, zu bestimmen, was seine Themen, Zugänge und Gegenstände seien, was es ausmache, und wie es somit positiv zu formulieren sei. Gegenwärtige Bestimmungen scheinen uns etwa z. B. um die Begriffe 'von unten', 'akteurszentriert', 'kritisch' oder 'ethnografisch' zu kreisen - die Liste wäre zu erweitern." schreiben Timo Heimerdinger, Univ.-Professor für Europäische Ethnologie in Innsbruck und Marion Näser-Lather (Universität Marburg, Deutschland).

Als Diskussionsgrundlage haben sie sechs Arten der Themenabwehr formuliert: Unergiebigkeit - Der Vorwurf lautet, die Beschäftigung mit einem Thema lohne die Mühe nicht. Zwar sei das Unbedeutende nicht immer zum Sprechen zu bringen, doch könne die Auseinandersetzung mit auf den ersten Blick banalen Dingen grundlegende, alltagskulturelle Zusammenhänge aufzeigen. Langeweile, verbunden mit persönlichem Desinteresse - Biographisch bedingte Vorlieben und Gleichgültigkeiten spielen dabei ebenso eine Rolle wie fachinterne Trends. Vermeintlich nutzloses Wissen - Hier stelle sich die Frage, "Nutzlosigkeit in Bezug worauf? Wäre Nützlichkeit im Sinne von Sammeln und Dokumentieren bestehender kultureller Lebensäußerungen definiert, dann wären alle Projekte als nützlich zu betrachten, die Forschungslücken schließen." Es scheint aber nicht so zu sein. Ekel - Für Völkerkundler alten Schlags galten bestandene Gefahren als Initiationsritual - nach dem Motto "Einem Ethnologen graust vor nix". Dem steht die viel zitierte "Angst des Forschers vor dem Feld" gegenüber. Moralische Verwerflichkeit - Forschungen bei Personengruppen mit abweichender Verhaltensweise bergen die Gefahr der Stigmatisierung, da die Forschenden mit ihnen identifiziert werden. Methodische Unzugänglichkeit - Dabei wird nicht das Thema an sich kritisiert, sondern der Zugang, oder den Forschenden wird das Recht abgesprochen, die Binnenkultur bestimmter Gruppen zu dokumentieren. Mangelnde oder zu große Nähe zu den "Beforschten" kann zur Ablehnung führen.

Die Tagungsbeiträge sind im Buch in drei Abschnitte gegliedert: Schauplätze (drei Artikel), Zugänge (fünf Artikel) und Fälle (vier Beispiele und das Resümee). Silke Göttsch-Elten schreibt "Vom Risiko, ein Volkskundler zu sein". Die Kieler Professorin kommt zu dem Schluss: "Nein, ich bin ganz und gar nicht pessimistisch. Mein ganzes Wissenschaftlerinnenleben hindurch hat mir das Risiko, eine Volkskundlerin zu sein, sehr gefallen, weil in diesem Fach keine Langeweile aufkommt und weil die Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie oder Empirische Kulturwissenschaft es immer wieder geschafft hat, neue Wege zu entdecken und sich dabei mit dem eigenen Tun und seinen Bedingungen selbstkritisch auseinanderzusetzen."

Prof. Bernd-Jürgen Warneken (Univ. Tübingen) erinnert, dass sich das Fach in seiner Reformphase nach 1968 vorgenommen hatte, sich mit dem "Gegenwartsalltag der Vielen" zu befassen. Dies sei nur begrenzt umgesetzt worden. Auch heute gebe es "zu wenige Untersuchungen über die Lebensweisen und Kulturen von Angehörigen unterer und mittlerer Bildungs- und Sozialschichten, zumal solchen ohne Migrationshintergrund. Mit der Folge, dass ausgerechnet die NachfolgerInnen der Volkskunde sich in der öffentlichen Diskussion um diejenigen, die heute 'Wir sind das Volk' rufen, wenig zu Wort melden"

Karin Bürkert, Tübingen, befasst sich mit dem einst wertgeschätzten, jetzt marginalisierten Forschungsfeld der Brauchforschung. In der Scientific Community gilt Brauchforschung als "Altlast" und "modriger Schimmelpilz". "Nicht schwerwiegend genug kann dabei die Kontamination des Themas mit rassifizierten Ideologien bemessen werden" , schreibt Karin Bürkert und denkt an den 1961 gegründeten Tübinger Arbeitskreis für Fastnachtsforschung. Als die Volkskunde noch Volkskunde hieß, war er ein früher Versuch der Kooperation mit Brauchakteuren. "Erklärtes Ziel des Arbeitskreises war es, historische Forschungen jenseits der mythologischen Deutungen des Brauches anzustoßen und dessen gegenwärtige Entwicklung zu dokumentieren und teils unter soziologischen Gesichtspunkten zu analysieren." Doch zeigte sich die Macht des Rücklaufs - die Wirkung der Forschung auf die Praxis - mit genau dem Gegenteil der Aussage: "Allein das Vorhandensein eines Buches über die Fastnacht bestätigt die Stereotypen über Fastnacht" . Der Tübinger Arbeitskreis wurde nach wenigen Jahren aufgelöst. "Der Rücklauf volkskundlichen Wissens in die Sphären der Alltagspraxis wurde im Zusammenhang mit der Brauchforschung … drastisch als 'Harakiri' der Volkskunde bezeichnet. "

Das Beispiel fließt auch in das Resümee der Herausgeber ein. Wer forscht, solle die Wirkungen seines Tuns reflektieren, "doch grundsätzlich bleibt anzuerkennen, dass die wissenschaftliche Suche nach neuer Erkenntnis im Kern das Flaschengeist-Prinzip beinhaltet: einmal frei gelassen, lässt die Erkenntnis - wie es auch Karin Bürkert anhand entgegen der Intention der Forschenden rezitierten Brauchforschungsergebnisse schilderte - nicht mehr einfangen und entfaltet ein Eigenleben. Ihre Unbeherrschbarkeit ist - je nach Lesart - Gefahr, Eros und Chance zugleich und bleibt notwendigerweise immer ambivalent." Der Tagungsband richtet sich in erster Linie an das Fachpublikum, doch ist er für einen breiteren Leserkreis interessant und spannend. Man blickt in das Innere eines Faches, das sich seit 60 Jahren erheblich gewandelt und zu seiner Neupositionierung innerhalb der Ethno- und Kulturwissenschaften gefunden hat.

hmw