Roberta Rio: Der Topophilia-Effekt #
Roberta Rio: Der Topophilia-Effekt – Wie Orte auf uns wirken. Edition a Wien. 272 S., € 22,-
Die römische Mythologie sprach vom genius loci als Schutzgeist eines Hauses. Der spätantike Gelehrte Maurus Servius Honoratus formulierte "Nullus locus sine genius" (Kein Ort ohne Geist). Seine Kernaussage lautete: Jeder Ort besitzt eine Seele und bestimmte Eigenschaften. Beides prägt die Persönlichkeit der Menschen, die dort verweilen. Der 1973 in Wien verstorbene Schriftsteller Wystan Hugh Auden schuf den Begriff Topophilia (griechisch topos - Ort, philia - Liebe). Roberta Rio hat den "Topophilia-Effekt" erfunden. Er steht, schreibt sie, für dieses unaufhörliche und bisweilen magische Zusammenspiel, für das Nachforschen, für das Nachfühlen, was ein Ort mit uns macht und für das Reflektieren darüber, was wir in Kenntnis seines Geistes aus ihm machen können.
Die gebürtige Italienerin Roberta Rio lebt und wirkt in verschiedenen Ländern Europas, unter anderem in Kärnten. Mit 21 war sie die jüngste Politikerin Italiens und als Kultur-Gemeinderätin für die Umgestaltung ihrer Heimatstadt mitverantwortlich. Die Autorin studierte Geschichte an der Universität Triest, dissertierte über Kataloge frühmittelalterlicher Bücher und wurde summa cum laude promoviert. 2011 stellte sie an der Universität Glasgow ihre Neue Historische Methode vor: Durch die Kombination historischer Erkenntnisse mit eigenen Intuitionen gelangt sie zu Interpretationen, die mit der üblichen historischen Methode nicht erreicht werden. Dies klingt streckenweise esoterisch, aber die Wissenschaftlerin achtet sorgfältig auf vorsichtige Formulierungen. Sie ist um Interdisziplinarität bemüht - Naturwissenschaften, Psychologie, Archäomythologie … - und hat viele persönliche Erfahrungen in ihr Buch einfließen lassen.
Roberta Rio erinnert sich, wie gerne sie als Kind den abenteuerlichen Geschichten ihres Vaters lauschte, der von prunkvollen Schlössern und Gespenstern erzählte. Er glaubte nicht an Geister, aber mich faszinierte seither der Gedanke, dass es Dinge gibt, die wir nicht sehen und auch nicht erklären können, und die doch real sind. Rückblickend stellt sie fest, dass sie sich im Inneren ihres Elternhauses nie wirklich wohlgefühlt und den Garten bevorzugt hatte. Als Teenager beschloss sie, Geschichte zu studieren und übersiedelte. Im Jahr 2000 erkrankte ihre Mutter, gegen ihren Willen beriet sich die Tochter mit einem Wünschelrutengänger. Er stellte fest, dass sich im Haus Radon-Gas abgesetzt hatte. Nach dem Tod meiner Mutter setzte ich mich noch einmal mit der Wirkung von Orten auf Menschen auseinander. Ich landete in einer Welt des Irrationalen mit ihrem fließenden Übergang zur Scharlatanerie. Seither hat Roberta Rio viel publiziert, in Vorträgen bekannt gemacht und das entsprechende Presse-Echo gefunden. Leser dieser Artikel rufen sie, um ihre Häuser im Hinblick auf gesundheitliche Wirkungen oder Geschäftserfolg begutachten zu lassen. Dann recherchiert die Historikerin in Archiven, befragt Ortsbewohner, verlässt sich auf ihre Intuition und beobachtet auch das Verhalten ihres Hundes bei den Begehungen.
Interessante Gespräche führte die Autorin mit dem Dombaumeister von St. Stephan in Wien, Architekt Wolfgang Zehentner und seinem Bruder Franz, Kunsthistoriker und Archivar der Dombauhütte. Sie haben sich eingehend mit der Standortwahl und den Proportionen mittelalterlicher Kathedralen beschäftigt. Der Archivar erzählte von einem Umbau der Mariazeller Basilika. Zuvor stand eine Mariensäule in der Mitte der Kuppel, im Zuge der Liturgiereform musste sie übersiedeln und nichts wies auf den ursprünglichen Standort hin. Als Franz Zehentner ohne ihn zu kennen, dort stand, spürte er ein schwer erklärbares Gefühl von Energie … Es sei deutlich und kraftvoll und unverwechselbar gewesen. Etliche Beispiele stammen aus Österreich. So ließ die Straßenbaugesellschaft ASFINAG an der Arlberger Schnellstraße S 16 von einem Pendler Steinsetzungen vornehmen, um störende Energieströme abzuleiten. In einer offiziellen Stellungnahme zog der Auftraggeber eine positive Bilanz über die Entstörung des gefährlichen Streckenabschnitts.
Etwa die Hälfte des Buches umfasst Fallbeispiele: Im Friaul wollte ein Notar in ein 300-jähriges Haus als Eventlocation investieren, doch hatte er bei dem Projekt irgendwie ein schlechtes "Bauchgefühl". Rios Recherche ergab, dass mehrere Vorbesitzer dort mit ihren Firmen bankrott machten, daher trennte er sich davon. Für ein anderes Haus ließen sich keine Mieter finden. Die Großeltern des Besitzers hatten es gebaut und richteten es für ihre werdende Familie ein. Doch der Mann fiel im Zweiten Weltkrieg, die Frau bewohnte das Haus nie, betreute es aber regelmäßig. Ihre Tochter setzte den Brauch fort. Ihrem Sohn, dem jetzigen Besitzer, verriet sie lange nichts davon. Ihm gelang es, das "Geisterhaus" von seiner traurigen Geschichte zu befreien. Nach Umbau und Entrümpelung wohnt er dort glücklich mit seiner Frau und zwei Kindern.
In einem italienischen Dorf kamen viele Autolenker in einer "Todeskurve" zu Schaden. Die Historikerin fand heraus, dass sie dem ursprünglichen Straßenverlauf folgten. Jahrhunderte lang hatte ein gerader Fußweg, an einem Bildstock vorbei, zu einer Kapelle geführt. Das Ehepaar, dem das Grundstück nun gehörte, ließ auf Anraten der Expertin an der alten Stelle eine Steinskulptur aufstellen. Seither gab es in der Kurve weniger Unfälle und keinen tödlichen mehr. Es kann auch einfach Zufall gewesen sein … Es gibt jedenfalls keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass diese mannshohe spitze Skulptur etwas damit zu tun hat. Dennoch scheint sie eine neue Harmonie an den Ort gebracht zu haben, die möglicherweise schon Leben gerettet hat. Weitere spektakuläre Beispiele sind eine Kapelle in Südengland, die erfolgreich zum Restaurant umgebaut wurde, ein Bauernhof in der Umgebung von Mailand, dessen Bewohner Schaden nahmen, weil er auf einem ehemaligen Friedhof stand. Nach Rios Expertise übersiedelte der letzte Eigentümer nach Portugal. Auf einer Ansichtskarte schrieb er ihr: Mir geht es so gut wie nie zuvor!. Eine Mesnerin in Kärnten betreute eine kleine Kirche, die auf einem keltischen Hügelgrab errichtet wurde. Ihr Haus stand auf einer hallstattzeitlichen Nekropole. Eigentlich wollte die Frau wegziehen, baute dann aber ihren Gemüse- und Kräutergarten aus und verlebt, zu jeder Jahreszeit viele glückliche Stunden voller innerer Freude.
Die Autorin betont, dass ein Ort nicht auf alle Menschen gleich wirkt. Sie will nur Muster aufzeigen und empfiehlt Demut vor dem Alten. Außerdem beschäftigt sie sich mit Mythen Kelten und Etruskern, aktuellen Studien oder - wie sie sagt - "noch" nicht wissenschaftlich bewiesenen Phänomenen. Dazu zählen Erdstrahlen, Wasseradern, Hohlwege als Energiezentren, geopathogene Zonen oder Rupert Sheldrakes Hypothesen von morphischen Feldern. Sie schreibt aber auch, dass Hartmanns und Currys Netze (an deren Knotenpunkten besonders starke, gesundheitsschädliche Energie entstehen sollten) inzwischen als wissenschaftlich widerlegt gelten.
Selbstverständlich hat Roberta Rio ihren verborgenen Lieblingsort. Der Weg ist gesäumt von vielen alten Bäumen. Er führt an einem winzigen See mit einem Wasserfall vorbei zu einer kleinen Kirche des Templerordens, die in einen Felsen gehauen ist. …Immer, wenn ich duiese Kirche betrete, überkommt mich eine innere Ruhe … und mein Kopf wird frei.