Esperanza Martinez-Rapport: Wien's Geschichte fährt U-Bahn#
Esperanza Martinez-Rapport: Wien's Geschichte fährt U-Bahn. 98 Stationen. Rapport-Verlag Wien. 96 S., ill., € 12,-
Die Autorin versteht ihre Publikation nicht als Buch, sondern als Booklet. Kaum größer als ein Beipackheft zu einer CD, enthält es kompakte Informationen. Der Schokololade-Slogan "Quadratisch, praktisch, gut" passt dazu ebenso wie die Charakterisierung der Wien Museum-Kuratorin Michaela Kronberger. Sie spricht im Vorwort von einer "zugleich gescheiten wie witzigen Publikation." Die Autorin Esperanza Martinez-Rapport wurde in Chile geboren, ist Kunsthistorikerin und lebt seit 20 Jahren in Wien.
Ihr Booklet ist in mehrfacher Hinsicht originell, nicht zuletzt durch die Zeichnungen der Architektin und Ilustratorin Katja Seifert. Die Geschichte hinter dem Namen aller 98 Stationen der fünf Wiener U-Bahn-Linien wird erklärt. Normalerweise würde man dazu ein herkömmliches Buchformat wählen und den Text mit repräsentativen Fotos versehen. Hingegen ist dieses Büchlein geeignet, ständig in der Handtasche zu bleiben und portionenweise zwischen den Stationen gelesen zu werden. Auch das Layout hat die Autorin konzipiert. Die Erklärungen sind links angeordnet, auf der rechten Seite findet man Ergänzendes zu Stichworten, auf die der Text verweist.
"Die rote Linie führt genau durch das Herz von Wien. Der Stephansdom war im Laufe der Geschichte der Stadt und des Landes immer wieder Zeuge wichtiger Ereignisse" , beginnt das Kapitel über die U1. Die Reise nimmt ihren Ausgang in Oberlaa, wo das schwefelhaltigste Thermalwasser Österreichs entspringt. Nebenbei erfährt man auf dem Weg durch die 24 Stationen Wissenswertes zu Vindobona, Schiffmühlen, Feuerwehr und anderen Stichworten.
Die U2 verkehrt vom Karlsplatz zu dem seit 2010 in Bau befindlichen "urbanistischen Megaprojekt" der Seestadt Aspern. Rathaus, Praterstern und Donauspital liegen auf dem Weg (allerdings keine "futuristische Stadtbibliothek" von Zaha Hadid, sondern das "Library & Learning Center" der Wirtschaftsuniversität). Rathausmann, DDSG und Babenberger sind einige der Zusatzthemen. So darf die Sage vom Ursprung der rot-weiß-roten Fahne nicht fehlen.
Die U3 verbindet Ottakring mit Simmering. Die Fahrt erinnert an die frühe Industrialisierung in diesen Bezirken ebenso wie an die Geschichte der City. Dort lernt man den Humanisten und Universitätsrektor Johannes Cuspinian kennen, der ab 1510 im Dienst von Kaiser Maximilian I. stand. Als Diplomat schuf er wichtige Voraussetzungen für die Weltmacht der Habsburger. Auch der (hier "Huber-Karte" genannte) Vogelschauplan des Militärargeographen Joseph Daniel Huber, ein aus 24 Blättern bestehendes Werk, das die Innenstadt und die Vorstädte zur Barockzeit überaus detailliert zeigt, findet seine Würdigung.
Die U4 übernahm Stationen der Wiental-Donaukanal-Linie der Stadtbahn (Heiligenstadt - Hütteldorf). Als von Otto Wagner geplantes Gesamtkunstwerk prägen ihre Bauten das Wiener Stadtbild. Der Tiergarten Schönbrunn ist als ältester Zoo weltbekannt. Weitgehend unbekannt ist die Namensgeberin der Längenfeldgasse und der dortigen Station. Josefa Haas aus Bayern war eine Waise, die ein Graf unterstützte. Später in Wien seine Lebenspartnerin, erwarb sie beträchtliches Vermögen. In Erinnerung an ihr eigenes Schicksal stiftete sie ein Waisenhaus in Meidling und Behilfen für arme Mädchen in Österreich und Bayern. In ihren letzten Lebensjahren wurde sie wegen ihrer Wohltaten vom bayerischen König unter dem Namen Josepha Haas von Längenfeld-Pfalzheim geadelt.
Die U6 beginnt in Siebenhirten, folgt der Stadtbahn-Gürtellinie und endet in Floridsdorf. Unter den Stichworten finden sich so unterschiedliche wie die Lokomotive "Philadelphia" (der Bahnhof Meidling hieß bis 2013 "Philadelphiabrücke"), der Wohnpark Alt-Erlaa und die von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Müllverbrennungsanlage Spittelau. Dabei gelang es "Energieeffizienz und Ästhetik unter einer Kappe" zu vereinen. Die Kappe, ein Markenzeichen des Künstlers, findet sich als Nachbildung auf dem Gebäude.
Eine Zeittafel von 1100 bis 1900 und ein Register runden das Booklet ab. Interessant ist das persönliche Nachwort der Autorin. Sie schreibt: " Sich als Tourist in Wien zu verlieben, geht sehr schnell. … Für Neuankömmlinge dauert es oft lange, bis für sie jede Ecke der Stadt eine eigene Bedeutung gewinnt. … In der Zwischenzeit kann man jedoch am Schatz der Erinnerungen der Stadt teilhaben. Wenn wir uns mit der Geschichte einer neuen Heimat befassen, wird uns das helfen, diese Heimat besser zu verstehen, sie zu schätzen und uns ihr näher zu fühlen. " Über Zuwanderung wird viel diskutiert. Esperanza Martinez-Rapport redet nicht nur, sondern sie schreibt ein Buch. Aufschlussreich für Einheimische und eine liebenswürdige Hilfestellung für Neuankömmlinge, sich in Wien daheim zu fühlen. Übrigens gibt es eine deutschsprachige, eine englische und eine spanische Ausgabe. Sollte es zu einer Neuauflage kommen, wäre aber doch manches zu korrigieren, um nur einige Beispiele zu nennen: Es beginnt schon beim Titel, wo ein Apostroph zu viel ist: "Wiens Geschichte", nicht Wien's Geschichte, auch decken sich die hier angegebenen Stationsnamen nicht immer mit den offiziellen, wie Erlaaer Straße (statt Erlaastraße) oder Neulaa (statt Neue Laa).