Der Mann aus dem Eis #
Vor genau 20 Jahren entdeckten zwei Bergtouristen zufällig die Gletschermumie „Ötzi“. Obwohl Wissenschafter seither zahlreiche Fragen beantworten konnten, gibt der Fund bis heute Rätsel auf.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (22. September 2011)
„Dieser Fund in den Alpen war ein Glücksfall für die Wissenschaft: eine 5000 Jahre alte Leiche, genannt Ötzi.“
Wir haben Glück, heute ist nur wenig los“, sagt der Museumsführer. Ein wenig Geduld ist dennoch geboten. Mit Zugbändern verbundene Abgrenzungsständer, wie man sie von Flughäfen kennt, formieren die Menschenmenge zu einer serpentinenförmigen Warteschlange. Wer an der Reihe ist, hat ein paar Augenblicke alleine vor dem 40 x 40 Zentimeter großen Sichtfenster, ehe der Anstand oder das Raunen der dahinter Wartenden zum Weitergehen zwingen. Gegenstand des regen Interesses ist die wahrscheinlich am besten untersuchte Leiche der Welt. „Ötzi“, der „Mann aus dem Eis“ (wie ihn die Wissenschaft nennt), ist auch 20 Jahre nach seiner Entdeckung noch immer ein Publikumsmagnet. Sein konservierter Körper bildet den Höhepunkt einer aktuellen Sonderausstellung im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen, die aufgrund des ungebrochenen Erfolges bis Ende 2012 verlängert wurde.
Für „Time“ einer der wichtigsten Menschen#
In heutiger Begrifflichkeit könnte man Ötzi als „Promi“ bezeichnen. Sein gefrorener Körper bildet aus vielen Gründen den Stoff, aus dem Mythen geschrieben werden. Schon die Entdeckung des mumifizierten Alpenbewohners durch das deutsche Ehepaar Erika und Helmut Simon resultierte aus einer Kette von Zufällen. Letztlich führte die spontane Entscheidung, einen Schmelzwassersee links statt rechts zu umgehen direkt zur halb freigelegten Leiche.
Unstimmigkeiten über die Eigentumsrechte an Ötzi erwirkten eine amtliche Neuvermessung des Grenzverlaufs zwischen Österreich und Südtirol. Mit dem bekannten Resultat: 92,56 Meter entschieden zugunsten unseres südlichen Nachbarn. Die Tatsache, dass bis heute acht Menschen, die an Fund oder Erforschung Ötzis beteiligt waren, gestorben sind, gab Verschwörungstheoretikern Futter für die Mär von „Ötzis Fluch“ . Das Time Magazine erklärte den Eismann 1991 zu einem der 25 wichtigsten Menschen des Jahres, etwas später setzten sie ihn sogar auf das Cover einer Oktoberausgabe.
Geradezu banal muten daneben die nüchternen Erkenntnisse der Wissenschaft an. Ötzi ist eine der ältesten jemals gefundenen Mumien, zugleich die einzige vollständig erhaltene Feuchtmumie. Ihre Organe enthalten eine geringe Restfeuchtigkeit, was wissenschaftliche Untersuchungen daran erst ermöglicht. „Die Einmaligkeit besteht vor allem darin, dass der Körper mit allen Organen erhalten ist“, sagt Walter Leitner, Leiter des Instituts für Archäologie an der Universität Innsbruck. „Auch seine Kleidung und die Ausrüstungsgegenstände erlauben uns einen Blick in die Geschichte der Jungsteinzeit, der zuvor nicht möglich war.“ Mehr als 100 internationale Forschungsteams aus verschiedenen Fachrichtungen haben die Mumie in den vergangenen 20 Jahren untersucht. Stück für Stück trugen sie Erkenntnisse zusammen, die sich zu einem – stets vorläufigen – Gesamtbild Ötzis Person, seines Lebens und seiner Zeit verdichten.
Ein Mittvierziger war er demnach, etwa 1,60 Meter groß, 50 Kilogramm schwer mit Fußgröße 38. Seine Lebenszeit wurde mittels Radiokarbon-Methode auf ein Fenster zwischen 3350 und 3100 vor Christus datiert. Die Materialien seiner Ausrüstungsgegenstände, etwa der als Messerklinge dienende Feuerstein, sind der Remedello- Kultur zugehörig. Diese war südwestlich des Gardasees beheimatet.
Erweiterung zu einem Kriminalfall#
Im Zahlschmelz gefundene Mineralstoffe sowie Spurenelemente von Strontium, Blei und Sauerstoff in den Knochen zeigen, dass Ötzi im Südtiroler Eisacktal, auf kristallinem Boden, aufgewachsen ist. Die zweite Lebenshälfte verbrachte er auf vulkanischem Untergrund, wahrscheinlich irgendwo im Etschtal. Untersuchungen des Darminhaltes brachten zutage, was Ötzi zuletzt gegessen hatte. Doch nicht nur das: Pollen der Hopfenbuche im Darm erlauben zudem eine Einschränkung des Todeszeitpunktes auf den Frühsommer. Denn die Blütezeit der Hopfenbuche ist im Juni.
In jüngerer Vergangenheit haben Wissenschafter auch das Erbgut von Ötzi entschlüsselt. Daraus weiß man inzwischen, dass er braune Augen hatte und nicht – wie lange angenommen – blaue. Im heurigen Herbst sollen auf einer Konferenz in Bozen weitere DNA-Resultate veröffentlicht werden. 2001 entdeckten Radiologen eine Pfeilspitze in der linken Schulter der Mumie. Damit erweiterte sich die Thematik mit einem Schlag auf einen Kriminalfall historischer Dimension. Auch eine tiefe Schnittverletzung an der rechten Hand, sowie ein 2006 entdecktes Schädel-Hirn-Trauma sprechen für eine gewaltsame Todesursache. Wer hat ihn umgebracht? Und warum? „Resträtsel“ werden stets bestehen bleiben, wie Angelika Fleckinger, Direktorin des Südtiroler Archäologiemuseums im FURCHE-Interview meint.
Für die Wissenschaft ergibt sich daraus die Aufgabe, fundierte Theorien zu präsentieren, um die Deutungshoheit nicht der Boulevardpresse zu überlassen. „Man darf die Öffentlichkeit nicht im Unklaren lassen“, sagt Walter Leitner. „Man muss aber gleichzeitig aufpassen, sich nicht in reine Spekulation zu versteigen.“ Er vermutet, dass Ötzi eine wichtige Person in seiner Gruppe war, eventuell in Führungsposition. Dafür spricht das Beil, das der Mann aus dem Eis bei sich trug. Die Spitze ist im Gussverfahren aus Kupfer hergestellt. Da Kupfer in der Jungsteinzeit noch sehr selten war, könnte darin ein Hinweis auf eine sozial gehobene Stellung Ötzis liegen. Von den 14 gefunden Pfeilen in seinem Köcher waren erst zwei mit Spitzen versehen, also schussbereit. Dem Bogen fehlten noch die Kerben, um eine Sehne darin einzuspannen. Er befand sich also offenbar auf der Flucht, was auf einen geplanten Mord hindeutet. Der tödliche Pfeil durchschlug Ötzis linke Unterschlüsselbeinarterie (arteria subclavia). Binnen weniger Minuten war er verblutet. Diesen Ablauf belegen die blutleeren Arterien sowie der Umstand, dass Leichenflecken fehlen. „Der oder die Mörder haben den Pfeil nach der Tat herausgezogen“, sagt Leitner. „Vielleicht wollten sie damit einen Unfall vortäuschen.“ Ein älterer Mann, der in eisigen Höhen der Natur unterliegt, hätte kaum Verdacht erregt. Andere Theorien besagen, dass Ötzi erst nach seinem Tod am späteren Fundort abgelegt wurde. Vielleicht um ihn zu bestatten, vielleicht um den Leichnam zu verstecken.
Der unklare Prozess der Mumifizierung#
Uneinigkeit besteht über den Prozess der Mumifizierung. Einige Experten meinen, dass der Körper bald nach dem Tod von einer luftdurchlässigen Schneeschicht bedeckt wurde, worauf Gefriertrocknung einsetzte. Dafür spricht, dass sich Körperfett ohne Luftzufuhr zu einer fettartigen Substanz, dem Leichenlipid, umwandelt. Doch das ist bei Ötzi nicht der Fall. Andere glauben, der Leichnam sei ausgetrocknet und später unter Schnee und Eis verschwunden. Dann wäre er zuvor Insekten und Raubtieren ausgesetzt gewesen und kaum vollständig erhalten. Im Archäologiemuseum sind die Bedingungen der 5000 Jahre langen natürlichen Konservierung jedenfalls nachgestellt, was sich viele lange ansehen.
Vom überraschenden Fund zur Mordtheorie #
19. SEPTEMBER 1991: Das deutsche Ehepaar Erika und Helmut Simon entdeckt Ötzi bei einer Bergwanderung zwischen Similaunhütte und Tisenjoch auf 3210 Meter Höhe in den Ötztaler Alpen.
23. SEPTEMBER 1991: Nach drei Tagen schlechten Wetters wird die Leiche mit Gerichtsmediziner Rainer Henn ohne Archäologen geborgen und mitsamt den Beifunden (Messer, Stoffreste, Heubüschel, Haare, Schnüre, etc.) an das Institut für Gerichtsmedizin in Innsbruck gebracht.
24. SEPTEMBER 1991: Der Archäologe Konrad Spindler schätzt den Toten aufgrund des Feuersteindolches und des Beils mit Metallklinge auf mindestens 4000 Jahre. Die Mumie wird an das Institut für Anatomie überstellt und in einer Kühlzelle gelagert.
2. OKTOBER 1991: Eine amtlich angeordnete Neuvermessung des Grenzverlaufes ergibt, dass die Fundstelle 92,56 Meter von der Staatsgrenze entfernt auf italienischem Gebiet liegt. Für Untersuchungen bleibt die Mumie in Innsbruck.
3. – 5. OKTOBER 1991 UND 20. JULI – 25. AUGUST 1992: Weitere Untersuchungen an der Fundstelle.
16. JÄNNER 1998: Mumie und Beifunde werden an das neue Südtiroler Archäologiemuseum überstellt. Wegen anonymer Anschlagsdrohungen erfolgt ein polizeilich gesicherter Transport über die dafür gesperrte Brennerautobahn.
MÄRZ 2002: Der untersuchende Radiologe berichtet im Journal of Archaeological Science, dass er mittels Röntgenuntersuchung eine Pfeilspitze in der Schulter der Mumie entdeckt hat. Das legt den Schluss nahe, dass Ötzi ermordet wurde.
OKTOBER 2002: DNA-Rekonstruktionen des Darminhaltes ergeben, dass Ötzi kurz vor seinem Tod Rothirsch und Getreide gegessen hat. Auch Reste von Steinbockfleisch wurden im Darm gefunden. Pollen im Darm zeigen außerdem, dass er sich in den letzten Tagen vor seinem Tod in subalpinen Nadelwäldern aufgehalten haben muss.
APRIL 2007: Pollen-Analysen rekonstruieren die letzten 33 Stunden in Ötzis Leben. Demnach führte ihn sein Weg in den Ötztaler Alpen von etwa 2500 Meter hinunter auf 1200 Meter und schließlich in die Zone seines Fundortes auf über 3000 Meter.
JULI 2007: Wissenschafter entdecken ein Schädel-Hirn-Trauma an der Mumie. Dies erhärtet die Mord-Theorie.
3. MÄRZ 2009: Nach 48 Stunden Fotoshooting stehen 3D-Bilder im Internet (www.icemanphotoscan.eu). (r. l.)
Ötzis Fluch und sonstige Theorien #
Fällt Ihnen etwas an Ötzis Funddatum, dem 19. September 1991, auf? Richtig: Geschrieben als „19 9 1 991“ ergibt sich ein numerisches Palindrom, eine vorwärts wie rückwärts gelesen identische Zeichenkette. Auch ohne Zahlenmystik beflügelt der Mann aus dem Eis waghalsige Theorien.
So sind in den vergangenen 20 Jahren acht Menschen gestorben, die an Fund, Bergung oder Erforschung der Mumie beteiligt waren. Darunter der Finder Helmut Simon, der Archäologe Konrad Spindler und der Gerichtsmediziner Rainer Henn. Letzterer auf der Fahrt zu einem Vortrag über die Gletscherleiche. Findige Medien sprachen von „Ötzis Fluch“. Dass diese Zahl angesichts der Hundertschaften an Wissenschaftern, Bergrettern und Journalisten, die mit Ötzi zu tun hatten, statistisch unauffällig ist, tut dem Gruseln keinen Abbruch. Kaum ein Stereotyp an Verschwörungstheorien wurde nicht genutzt. Der Journalist Michael Heim etwa witterte Publicity und tourte mit seiner Behauptung, Ötzi wäre eine Fälschung, durch die Medien. Parapsychologen wollen mit Ötzi im Jenseits kommuniziert haben, sogar Tonaufnahmen wurden vorgelegt. Viele Menschen meinen, in der Leiche einen verschollenen Angehörigen zu erkennen. Die Deutsche Renate Spieckermann behauptete sogar, eine Reinkarnation des Alpenmannes zu sein.
Eine besonders hübsche Anekdote: Ein Leser bot dem Hamburger Stern Ötzis Tagebücher an – sieben in Keilschrift auf Mammutfell geschriebene Berichte. Ein zweites Mal griff die Zeitung nach den gefälschten Hitler-Notizen nicht daneben. Immerhin war zu Ötzis Zeit das Mammut ausgestorben und die Keilschrift entstand Jahrhunderte später im Orient. (r. l.)
Ötzi ist Wirtschaftsfaktor #
Angelika Fleckinger leitet das Südtiroler Archäologiemuseum. Dort ist die Mumie ausgestellt. Jährlich kommen 240.000 Besucher zur Besichtigung.#
Das Gespräch führte
Raimund Lang
- Etwa 240.000 Besucher lockt der Mann aus dem Eis jährlich ins Südtiroler Archäologiemuseum. Das Haus in Bozen ist ganz auf die Gletschermumie zugeschnitten, sagt Direktorin Angelika Fleckinger.
DIE FURCHE: Was fasziniert aus Ihrer Sicht die Menschen an Ötzi?
Angelika Fleckinger: Ötzi gibt der Geschichte ein Gesicht. Man kann so etwas wie eine emotionale Beziehung zur Vergangenheit aufbauen, wenn man ihn sieht. Das versuchen wir durch die Präsentation zu betonen. Das ist bei anderen Museen nicht so einfach möglich.
DIE FURCHE: Sind die Besucher an den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung interessiert?
Fleckinger: Ja, die Menschen wollen wissen, was Spekulation und was wissenschaftlich begründet ist. In der Sonderausstellung „Ötzi20“ gehen wir über den wissenschaftlichen Aspekt hinaus und beleuchten den Fund unter mehreren Gesichtspunkten, darunter auch die Rezeption in den Medien.
DIE FURCHE: Ist das Interesse an der Mumie noch ungebrochen oder merken sie einen Rückgang?
Fleckinger: Das Interesse ist nach wie vor groß. Seit der Eröffnung des Museums 1998 haben wir jährlich etwa 240.000 Besucher. Zu bestimmten Anlässen ist das Medienecho größer, etwa zu Jahrestagen oder bei neuen wissenschaftlichen Ergebnissen.
DIE FURCHE: Wissenschafter arbeiten seit 20 Jahren an der Mumie. Was leitet die Forschung?
Fleckinger: Man hat sich jüngs tens bemüht, die Dynamik um den Tod Ötzis zu verstehen. Die Schnittverletzung an der Hand und die Pfeilspitze im Rücken legen nahe, dass vor seinem Tod dramatische Ereignisse vorgefallen sein müssen.
DIE FURCHE: Werden sich diese Umstände zweifelsfrei klären lassen?
Fleckinger: Es existieren Theorien, aber einige Resträtsel werden bleiben. Andererseits gibt es heute völlig neue Untersuchungsmöglichkeiten, etwa DNA-Analysen. Das Erbgut der Mumie ist fas völlig entschlüsselt. Daraus weiß man, dass er braune Augen hatte und nicht blaue, wie lange Zeit angenommen. Im Oktober werden bei einer Konferenz in Bozen aktuellste Ergebnisse veröffentlicht.
DIE FURCHE: Hat der Fund von Ötzi so etwas wie eine neue Forschungsdisziplin begründet?
Fleckinger: Das nicht. Aber 2007 wurde in Bozen das Institut für Mumien und den Iceman gegründet. Deren Leiter, Albert Zink, arbeitet eng mit uns zusammen. Noch heuer soll eine Datenbank online gehen, die der Öffentlichkeit sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse mit Bildmaterial zur Verfügung stellt.
DIE FURCHE: An der Erforschung von Ötzi sind weltweit viele Wissenschafter interessiert. Wie entscheiden sie, wer ran darf?
Fleckinger: Es gibt einen wissenschaftlichen Beirat für die Mumie, der alle Projektanträge begutachtet und bewertet. Parallel dazu erstellt unser Konservierungsbeauftragter ebenfalls ein Gutachten. Nur wenn beide Gutachten positiv sind, dürfen Forscher Proben entnehmen. Dafür gibt es lange Wartezeiten, weil die Mumie nur sehr selten und für kurze Zeit aufgetaut wird. Dann können Forschungsteams nach einem genauen Zeitplan an der Mumie arbeiten.
DIE FURCHE: Das Südtiroler Archäologiemuseum steht heuer ganz im Zeichen des zwanzigsten Jahrestages des Fundes. Welche Rolle wird Ötzi in Zukunft spielen?
Fleckinger: Die Mumie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Wir haben ein Jahresbudget von 1,6 Millionen Euro und fi nanzieren uns fast ausschließlich aus Besuchereinnahmen. Der Mann aus dem Eis bleibt die Hauptattraktion unseres Hauses. Die übrigen Exponate der Südtiroler Archäologie werden wir in wechselnden Themenschwerpunkten präsentieren.