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1. Was sind Algorithmuskulturen? 9
sondern eine Vielzahl an black boxes. Die Undurchsichtigkeit der Algorithmen
ist durch eine multiple Opazität gekennzeichnet und die verschiedenen For-
men der Opazität ergeben sich aus spezifischen Relationierungen innerhalb
einer Fülle von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Wenngleich
nur wenige Autoren die Pluralität dieser Opazität betonen (Burrel 2016; Morris
2015), bleibt es ein nicht zu übersehendes Merkmal, dass Algorithmen über-
haupt nur in dichten, vielfältigen und durchaus auch spannungsvollen Um-
welten existieren können.
Aus dieser inhärent lebhaften, dynamischen und unscharfen Beschaf-
fenheit der Algorithmen erschließt sich auch, warum Algorithmen einen so
schwer fassbaren Forschungsgegenstand darstellen. Kitchin drückt das fol-
gendermaßen aus: »die Erzeugung eines Algorithmus entfaltet sich kontextu-
ell über Verfahren wie trial and error, Spiel, Kollaboration und Aushandlung«
(Kitchin 2014: 10). Hierbei ist der letztgenannte Begriff der Aushandlung
(negotiation) von besonderer Bedeutung, denn er verweist sowohl auf eine
Möglichkeitsbedingung als auch auf eine spezifische Problematik der Algo-
rithmen. Auf einer basalen Ebene ließen sich Algorithmen als anthropologisch
verwoben mit ihren Nutzern und Herstellern bezeichnen. In anderen Worten:
Es besteht eine »konstitutive Verstrickung«, das meint, »es sind nicht nur
wir, die wir die Algorithmen erstellen, sie erstellen auch uns« (Introna/Hayes
2011: 108). Nun besteht die Charakteristik einer solchen wechselseitigen Ver-
flechtung gerade darin, dass man Algorithmen nicht gänzlich ›enthüllen‹,
sondern nur bis zu einem gewissen Grade ›entpacken‹ kann. Sie sind gewis-
sermaßen zeitlich verwurzelt, sie entstehen nach ihren eigenen Rhythmen,
oder um es in Shintaro Miyazakis Worten zu sagen: »sie müssen sich ent-
falten und verkörpern so Zeit« (Miyazaki, in diesem Band 174). Eine weitere
Metapher, die sich in diesem Zusammenhang zur Veranschaulichung anbie-
tet, ist Latours Konzept der Kaskade: Algorithmen bewegen sich auf nicht-
linearen Pfaden, befinden sich in stetigem Wandel, sind stetiger Fluktuation
und Abweichung ausgesetzt (Latour 1986: 15f.). Diese stetigen Veränderungen
machen es entsprechend schwer, mitunter sogar unmöglich, ihnen zu fol-
gen. Was es hier abermals hervorzuheben gilt, ist der praktische, ja ›profane‹
Charakter der Algorithmen: Sie entfalten sich in einem Zustand der ununter-
brochenen Aushandlung und befinden sich somit in einem kontinuierlichen
Zwischenstadium. Seaver zufolge ist für die Algorithmen gerade kennzeich-
nend, dass »stetig unzählige Hände in sie hineinreichen, sie justieren, und
anpassen, Teile austauschen und mit neuen Arrangements experimentieren
(Seaver 2014: 10).
Die vielfältigen Entfaltungsmodi der Algorithmen rufen altbekannte me-
dientheoretische Erkenntnisse in Erinnerung, verändern aber gleichsam deren
Vorzeichen. So stellte bereits Weiser fest, dass die am tiefsten greifenden und
am nachhaltigsten wirkenden Technologien jene sind, die verschwinden (Wei-
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Titel
- Algorithmuskulturen
- Untertitel
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Autor
- Robert Seyfert
- Herausgeber
- Jonathan Roberge
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 242
- Schlagwörter
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Kategorie
- Technik