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ALJ 1/2015 Beate Sündhofer 93
Frage, ob ein generelles Verbot, das Gesicht zu bedecken, tatsächlich dem Ziel des Schutzes der
öffentlichen Sicherheit dient. Nach den Angaben, auf die sich auch der EGMR bezieht, tragen nur
circa 1.900 Frauen von einer Gesamtzahl von 65 Millionen Französinnen einen Gesichtsschleier.
Dass ein derart geringer Prozentanteil der Bevölkerung überhaupt von dem Verbot der Gesichts-
bedeckung betroffen ist, spielt für den EGMR erst bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine
Rolle.40 Allerdings spricht diese geringe Zahl schon dagegen, dass von Menschen mit bedecktem
Gesicht generell eine bedeutende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Im Unterschied
etwa zur religiös angespannten Situation in der Türkei, die Argument für eine strikte Umsetzung
des Prinzips des Laizismus und damit auch Argument für einen Eingriff in die Religionsaus-
übungsfreiheit der Einzelnen ist,41 werden derartige Probleme in Frankreich nicht ins Treffen
geführt. Im Gegenteil wird das Phänomen der gänzlichen Bedeckung des Gesichts in den Erläute-
rungen zum Gesetzesentwurf als unbedeutend („marginal“) bezeichnet.42 Im Besonderen gibt es
keine Hinweise darauf, dass ein Gesichtsbedeckungsverbot etwa dem Schutz der Bevölkerung
vor Spionage oder Terrorismus dienen soll bzw derartige Angriffe bereits stattgefunden haben oder
bevorstehen.43 Insofern ist es, entgegen der Ansicht des EGMR, zweifelhaft, ob das Gesichtsbede-
ckungsverbot in Frankreich tatsächlich dem Ziel des Schutzes der öffentlichen Sicherheit dient.
Auch den „Respekt vor den Mindestanforderungen des gesellschaftlichen (Zusammen-)Lebens“
lässt der EGMR als legitimes Ziel im Sinne des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer gelten.44
Der EGMR bezieht sich darauf, dass die Regierung neben dem Schutz der öffentlichen Sicherheit
auch die Achtung der Grundwerte einer offenen und demokratischen Gesellschaft als legitimes
Ziel anführt. Zu diesen Grundwerten sollen die Gleichheit von Mann und Frau, die Menschen-
würde und die Mindestanforderung des Lebens in der Gesellschaft gehören. Von diesen drei
Grundwerten subsumiert der EGMR nur die Mindestanforderungen des Lebens in der Gesell-
schaft unter das in Art 8 Abs 2 und Art 9 Abs 2 EMRK normierte Ziel des Schutzes der Rechte und
Freiheiten anderer. Das Gesicht spiele zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen für das
soziale Zusammenleben eine essentielle Rolle.45 Dem treten die Richterinnen Nußberger und
Jäderbloom in ihrer „dissenting opinion“ entgegen. Sie betonen, es sei wichtig, die hinter diesem
Ziel stehende Überlegung zu beachten. Ein Gesichtsbedeckungsverbot zum Schutz der Rechte
und Freiheiten anderer einzuführen bedeutet Personen davor zu schützen, mit jemandem zu-
sammenzutreffen, der sein Gesicht bedeckt hat.46 Der EGMR zieht hierfür die Argumentation der
Regierung heran, wonach das Gesicht wesentlich für die soziale Interaktion sei. Sich das Gesicht
verhüllende Personen würden durch diese Barriere das Recht von anderen verletzen, in einem
sozialen Raum zu leben, der insgesamt das Zusammenleben erleichtert.47 Als schützenswertes
Recht wird vom EGMR in diesem Zusammenhang somit das Recht auf ein Zusammenleben ange-
sehen. Zu schützende Rechte und Freiheiten anderer können sich aus Konventionsrechten, aber
40 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 145.
41 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 30 ff, wobei in diesem Fall die öffentliche Sicherheit nicht als
legitimes Ziel angeführt wird; Pabel, Islamisches Kopftuch und Prinzip des Laizismus, EuGRZ 2005, 12 (13 f); vgl
auch Kokott, Laizismus und Religionsfreiheit im öffentlichen Raum, Der Staat 2005, 343 (357 ff).
42 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 25; projet de loi interdisant la dissimulation du visage dans
l‘espace public, Etude d‘impact, Mai 2010, 5, 21.
43 Vgl dazu Marauhn/Thorn in Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG I2 Kap 16 Rn 90.
44 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 116 ff.
45 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 121.
46 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich, separate opinion, Rn 6.
47 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 122.
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Austrian Law Journal
Band 1/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 1/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 188
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal