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ALJ 1/2015 Beate Sündhofer 95
C. Begründungsansätze für den „margin of appreciation“ im Fall S.A.S.
1. Religion und allgemeinpolitische Gegenstände
Im Fall S.A.S. führt der EGMR als erstes Argument für das Bestehen eines weiten Ermessensspiel-
raums an, dass in Fragen von allgemeinpolitischer Bedeutung dem nationalen Gesetzgeber eine
bedeutende Rolle zukäme. Interessant ist, dass der EGMR in weiterer Folge – ganz im Gegenteil
zu Ahmet Arslan ua zuvor – seine Begründung hinsichtlich der bedeutenden Rolle der nationalen
Gesetzgeber zur Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion aus Leyla Şahin wieder
aufgreift und so den weiten Ermessensspielraum der Staaten rechtfertigt.57 Abgrenzend zu Ahmet
Arslan ua handle es sich im Fall des französischen Verbots jedoch gerade nicht um das Verbot
eines religiösen Kleidungsstückes, sondern lediglich um das allgemeine Verbot der Verhüllung
des Gesichts.58 Der EGMR führt somit zur Begründung des weiten Ermessensspielraumes seine
zurückhaltende Rolle im Verhältnis von Staat und Religion an, obwohl er gleichzeitig feststellt,
dass das Gesichtsbedeckungsverbot in der Öffentlichkeit religiös-neutral formuliert ist. Wohl aus
diesem Grund begründet er den Beurteilungsspielraum darüber hinaus mit dem Vorliegen einer
Frage von allgemeinpolitischer Bedeutung. Der Rolle der staatlichen Entscheidungsträger sei eine
besondere Bedeutung zuzumessen, wenn es um allgemeinpolitische Fragen gehe, bei denen in
den Staaten tiefgreifende Unterschiede bestünden.59 Eine nähere Begründung, weshalb in die-
sem Fall eine Frage von allgemeinpolitischer Bedeutung vorliegt, die den weiten Ermessensspiel-
raum rechtfertigt, vermisst man am Ende der Argumentation jedoch. Sehr knapp mahnt sich der
EGMR zur Zurückhaltung.60 Dass den Mitgliedstaaten in Angelegenheiten von allgemeinpoliti-
scher Bedeutung ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, erscheint durchaus sinnvoll, wenn
dadurch gesellschaftspolitisch umstrittene Fragestellungen in die Zuständigkeit der demokratisch
legitimierten Gesetzgeber gelegt sind. Allerdings ist dieser Begründungsansatz in der Rechtspre-
chung des EGMR noch nicht entwickelt. Es ist unklar, welche Kriterien der Gerichtshof zur Beur-
teilung einer Angelegenheit von allgemeinpolitischer Bedeutung heranzieht.61
2. Europäischer Konsens an seinen Grenzen
Am Ende der Prüfung der Verhältnismäßigkeit führt der EGMR in S.A.S. erstmals als Argument
auch den europäischen Konsens an.62 In seiner bisherigen Rechtsprechung hinsichtlich des Ver-
bots des Tragens von religiöser Kleidung bzw religiösen Symbolen spielte diese Begründung bis-
lang keine Rolle. Für den EGMR ist in S.A.S. das Fehlen eines europäischen Konsenses ein Argu-
ment für den weiten Ermessensspielraum des Staats.
57 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 129 ff; vgl dazu EGMR 10. 11. 2005 (GK), 44774/98, Leyla Şahin
Rn 109 sowie schon EGMR 27. 6. 2000 (GK), 27417/95, Cha’are Shalom Ve Tsedek Rn 84 und EGMR 26. 9. 1996,
18748/91, Manoussakis ua Rn 44.
58 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 151.
59 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 129.
60 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 154 mit Verweis auf Rn 129.
61 Vgl dazu ua EGMR 18. 1. 2011, 39401/04, MGN Limited Rn 200 (Verpflichtung zur Zahlung einer Erfolgsprämie an den
Anwalt der gegnerischen Partei eines Gerichtsverfahrens); EGMR 23. 11. 2010, 60041/08 ua, Greens u M.T. Rn 113
(Wahlrecht für Strafgefangene); EGMR 6. 11. 2005 (GK), 11810/03, Maurice Rn 117 (Schadenersatz bei falschen Er-
gebnissen der Pränataldiagnostik iZm der Geburt eines Kindes mit körperlicher Behinderung); EGMR 8. 7. 2003,
36022/97, Hatton ua Rn 97 (Immissionsschutz bei Fluglärm).
62 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 156.
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Austrian Law Journal
Band 1/2015
- Titel
- Austrian Law Journal
- Band
- 1/2015
- Autor
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Herausgeber
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Ort
- Graz
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- Abmessungen
- 19.1 x 27.5 cm
- Seiten
- 188
- Schlagwörter
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Kategorien
- Zeitschriften Austrian Law Journal