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Amok - Novellen einer Leidenschaft
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als einen Schimmer sah ich ihr Gesicht, und wie ein Dunst lag um sie das weiße Nachtgewand. Sie lehnte am Fenster, und wie sie dastand, ihr Wesen hinausgewandt in die Landschaft, von dem schimmernden Spiegel der Tiefe geheimnisvoll angezogen in ihr Schicksal, schien sie märchenhaft, Ophelia über dem Teiche. Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie erreicht haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich wußte nicht, ob sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn nichts Jähes war in ihrer Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand. Alles war ganz still um uns. An der Wand tickte eine kleine Uhr. Ganz still blieb es, und dann sagte sie plötzlich leise und unvermutet: »Ich fürchte mich so.« Zu wem sprach sie? Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton, der heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich ihr Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich nicht verwundert, nicht verwirrt. Ich trat auf sie zu, sie zu beruhigen und faßte ihre Hand. Wie Zunder fühlte sie sich an, heiß und trocken, und der Griff der Finger zerbröckelte weich in meiner Umfassung. Lautlos ließ sie mir die Hand. Alles an ihr war schlaff, wehrlos, abgestorben. Und nur von den Lippen flüsterte es nochmals wie aus einer Ferne: »Ich fürchte mich so! Ich fürchte mich so.« Und dann in einem Seufzer hinsterbend wie aus einem Ersticken: »Ach, wie schwül es ist!« Das klang von ferne und war doch leise geflüstert wie ein Geheimnis zwischen uns beiden. Aber ich fühlte dennoch: sie sprach nicht zu mir. Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags vor dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie gab nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen ihre Schultern gegen mich. Nun hatte ich sie ganz nahe an mir, daß ich die Schwüle ihrer Haut atmen konnte und den feuchten Duft ihres Haares. Ich bewegte mich nicht, und sie blieb stumm. Seltsam war all dies, und meine Neugier begann zu funkeln. Allmählich wuchs meine Ungeduld. Ich rührte mit meinen Lippen an ihr Haar – sie wehrte ihnen nicht. Dann nahm ich ihre Lippen. Sie waren trocken und heiß, und als ich sie küßte, taten sie sich plötzlich auf, um von den meinen zu trinken, aber nicht dürstend und leidenschaftlich, sondern mit dem stillen, schlaffen, begehrlichen Saugen eines Kindes. Eine Verschmachtende, so fühlte ich sie, und so wie ihre Lippen sog sich ihr schlanker, durch das dünne Gewand warm wogender Körper mir ganz so an, wie früher draußen die Nacht, ohne Kraft, aber voll einer stillen, trunkenen Gier. Und da, wie ich sie hielt – meine Sinne funkelten noch grell durcheinander – spürte ich die warme feuchte Erde an mir, wie sie heute 60
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Amok Novellen einer Leidenschaft
Titel
Amok
Untertitel
Novellen einer Leidenschaft
Autor
Stefan Zweig
Datum
1922
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
158
Kategorien
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