Page - 60 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Image of the Page - 60 -
Text of the Page - 60 -
als einen Schimmer sah ich ihr Gesicht, und wie ein Dunst lag um sie das
weiße Nachtgewand. Sie lehnte am Fenster, und wie sie dastand, ihr Wesen
hinausgewandt in die Landschaft, von dem schimmernden Spiegel der Tiefe
geheimnisvoll angezogen in ihr Schicksal, schien sie märchenhaft, Ophelia
über dem Teiche.
Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie erreicht
haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich wußte nicht, ob
sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn nichts Jähes war in ihrer
Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand. Alles war ganz still um uns.
An der Wand tickte eine kleine Uhr. Ganz still blieb es, und dann sagte sie
plötzlich leise und unvermutet: »Ich fürchte mich so.«
Zu wem sprach sie? Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie
aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton, der
heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich ihr
Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich nicht
verwundert, nicht verwirrt. Ich trat auf sie zu, sie zu beruhigen und faßte ihre
Hand. Wie Zunder fühlte sie sich an, heiß und trocken, und der Griff der
Finger zerbröckelte weich in meiner Umfassung. Lautlos ließ sie mir die
Hand. Alles an ihr war schlaff, wehrlos, abgestorben. Und nur von den
Lippen flüsterte es nochmals wie aus einer Ferne: »Ich fürchte mich so! Ich
fürchte mich so.« Und dann in einem Seufzer hinsterbend wie aus einem
Ersticken: »Ach, wie schwül es ist!« Das klang von ferne und war doch leise
geflüstert wie ein Geheimnis zwischen uns beiden. Aber ich fühlte dennoch:
sie sprach nicht zu mir.
Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags vor
dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie gab
nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen ihre
Schultern gegen mich. Nun hatte ich sie ganz nahe an mir, daß ich die
Schwüle ihrer Haut atmen konnte und den feuchten Duft ihres Haares. Ich
bewegte mich nicht, und sie blieb stumm. Seltsam war all dies, und meine
Neugier begann zu funkeln. Allmählich wuchs meine Ungeduld. Ich rührte
mit meinen Lippen an ihr Haar – sie wehrte ihnen nicht. Dann nahm ich ihre
Lippen. Sie waren trocken und heiß, und als ich sie küßte, taten sie sich
plötzlich auf, um von den meinen zu trinken, aber nicht dürstend und
leidenschaftlich, sondern mit dem stillen, schlaffen, begehrlichen Saugen
eines Kindes. Eine Verschmachtende, so fühlte ich sie, und so wie ihre Lippen
sog sich ihr schlanker, durch das dünne Gewand warm wogender Körper mir
ganz so an, wie früher draußen die Nacht, ohne Kraft, aber voll einer stillen,
trunkenen Gier. Und da, wie ich sie hielt – meine Sinne funkelten noch grell
durcheinander – spürte ich die warme feuchte Erde an mir, wie sie heute
60
back to the
book Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik