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war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und von der eigenen
warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber wach geworden war,
spürte ich auf einmal das Leben der andern, ich spürte die Brunst der
Millionenstadt, wie sie sich heiß und aufgestaut in die paar Stunden des
Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte an der eigenen Fülle zu einem
dumpfen, tierischen, aber irgendwie gesunden und triebhaften Genuß. Und
allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausgesetzten Berührung
mit ihren heißen leidenschaftlich drängenden Körpern ihre warme Brunst
selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften sich, ausgebeizt von dem
scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne spielten taumelig mit dem
Getöse und empfanden jene verwirrte Betäubung, die mit jeder starken
Wollust unweigerlich gemengt ist. Zum erstenmal seit Jahren, vielleicht
überhaupt in meinem Leben, spürte ich die Masse, spürte ich Menschen als
eine Macht, von der Lust in mein eigenes, abgeschiedenes Wesen überging:
irgendein Damm war zerrissen, und von meinen Adern gings hinüber in diese
Welt, strömte es rhythmisch zurück, und eine ganz neue Gier überkam mich,
noch jene letzte Kruste zwischen mir und ihnen abzuschmelzen, ein
leidenschaftliches Verlangen nach Paarung mit dieser heißen, fremden,
drängenden Menschheit. Mit der Lust des Mannes sehnte ich mich in den
quellenden Schoß dieses heißen Riesenkörpers hinein, mit der Lust des
Weibes war ich aufgetan jeder Berührung, jedem Ruf, jeder Lockung, jeder
Umfassung – und nun wußte ichs, Liebe war in mir und Bedürfnis nach Liebe
wie nur in den zwielichthaften Knabentagen. Oh, nur hinein, hinein ins
Lebendige, irgendwie verbunden sein mit dieser zuckenden, lachenden,
aufatmenden Leidenschaft der andern, nur einströmen, sich ergießen in ihren
Adergang; ganz klein, ganz namenlos werden im Getümmel, eine Infusorie
bloß sein im Schmutz der Welt, ein lustzitterndes, funkelndes Wesen im
Tümpel mit den Myriaden aber nur hinein in die Fülle, hinab in den Kreisel,
mich abschießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit ins
Unbekannte, in irgendeinen Himmel der Gemeinsamkeit.
Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste alles
zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussells, das seine
Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer aufsprühte, die
chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder einzelne Laut in
mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen
vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen
Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles
gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. Ich kann meinen
komplizierten Zustand unmöglich mit Worten ausdrucken, am ehesten gelingt
es noch vielleicht mit einem Vergleiche: wenn ich sage, ich war überfüllt mit
Geräusch, Lärm, Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die mit allen Rädern
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Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Titel
- Amok
- Untertitel
- Novellen einer Leidenschaft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1922
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Kategorien
- Weiteres Belletristik