Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Weiteres
Belletristik
Amok - Novellen einer Leidenschaft
Seite - 100 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 100 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft

Bild der Seite - 100 -

Bild der Seite - 100 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft

Text der Seite - 100 -

er auch überschmutzt sein von vielen Griffen, starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, gerade dies hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsamkeit, aus der ich taumelnd ausstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an einer letzten Ecke immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in sich aufzufangen, jede Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, jede Hitze zu kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart. Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes, rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort, einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer – während die Melodie des Karussells schon müde wegtaumelte – die nahe Gegenwart, diesen Willen, der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel der Welt mich überfluten zu fühlen. Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu langwellig, hier 100
zurück zum  Buch Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok Novellen einer Leidenschaft
Titel
Amok
Untertitel
Novellen einer Leidenschaft
Autor
Stefan Zweig
Datum
1922
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
158
Kategorien
Weiteres Belletristik
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Amok