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er auch überschmutzt sein von vielen Griffen, starrend von Alter, zerfressen
von giftigem Rost. Und dies, gerade dies hatte ich vergessen in der Stunde der
untersten Einsamkeit, aus der ich taumelnd ausstieg in dieser Nacht, daß
irgendwo an einer letzten Ecke immer diese Letzten noch warten, jede
Hingabe in sich aufzufangen, jede Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu
lassen, jede Hitze zu kühlen für ein kleines Stück Geld, das immer zu gering
ist für das Ungeheure, das sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem
großen Geschenk ihrer menschlichen Gegenwart.
Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es
war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das Dunkel
hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand kam
mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon scharrte und
zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des Tages zusammen,
und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach dieser letzten Runde
knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen. Nur ich, ich allein, stand
noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und sah hinaus auf den leeren Platz,
wo nur diese fledermausflatternden Gestalten strichen, suchend wie ich,
wartend wie ich, und doch den undurchdringlichen Raum von Fremdheit
zwischeneinander. Aber jetzt mußte eine von ihnen mich bemerkt haben, denn
sie schob sich langsam her, ganz nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick:
ein kleines, verkrüppeltes, rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem
geschmacklos aufgeputzten Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene
Ballschuhe vorlugten, das Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem
Trödler zusammengekauft und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen
oder irgendwo bei einem schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte
sich heran, blieb neben mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend
und ein einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem
stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich nicht
fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um mich
begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese
gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort, einer
Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu rühren,
hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art wollüstiger
Ohnmacht empfand ich nur immer – während die Melodie des Karussells
schon müde wegtaumelte – die nahe Gegenwart, diesen Willen, der um mich
warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz dieses
magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel der
Welt mich überfluten zu fühlen.
Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem letzten
stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie die
Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu langwellig, hier
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik