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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG 21
selbst immer wieder thematisiert So schreibt sie 1925 an Max Eitingon: Ich
weiß schon, Herr Doktor, warum ich immer gleich ein schlechtes Gewissen
habe, wenn ich unvernünftig bin. Weil Papa immer zeigt, daß er mich so gerne
vernünftiger und klarer wissen möchte, als die Mädchen und Frauen, die er in
seinen Analysen mit allen ihren Stimmungen, Unzufriedenheiten und leiden-
schaftlichen Eigenheiten kennen lernt.49 Das macht klar, welche Befürch-
tung im Raum steht Freud kennt die Vorgeschichte von Hysterikerinnen,
seit sein Freund Breuer Bertha Pappenheim alias Anna O in Behandlung
hatte Vielleicht leitet er aus der geschilderten Symptomatik eine Dispositi-
on zur Hysterie ab und möchte Abhilfe schaffen, bevor sie manifest zu wer-
den beginnt Er selbst und Breuer hatten ja den Hysteriediskurs um die
Jahrhundertwende radikal zu transformieren begonnen, indem sie biologis-
tische Konzepte um eine psychodynamische Sichtweise erweiterten 50 Die
Adoleszenten, welche später hysterisch werden, schreibt Breuer, sind vor
ihrer Erkrankung meist lebhaft, begabt, voll geistiger Interessen; ihre Willens-
energie ist oft bemerkenswert. Zu ihnen gehören jene Mädchen, die nachts
aufstehen, um heimlich irgendein Studium zu betreiben, das ihnen die Eltern
aus Furcht vor Überanstrengung versagten 51 Wenn er die gemeinsame Pub-
likation ernst nimmt, muss Freud sich davor hüten, den Bildungshunger
seiner jüngsten Tochter zu bremsen. Zumal Breuer an Bertha Pappenheim
auch bemerkt hatte, dass die mangelnde Befriedigung intellektueller Be-
dürfnisse sie zu einer übermäßigen Fantasietätigkeit geführt hatte, zu ei-
nem habituellen Wachträumen, und in dieser Kombination die auslösenden
Faktoren ihrer Hysterie sah 52 Anna Freuds Tagträumen, das ihm wohl schon
vor ihrer Analyse (ab 1918) kein Geheimnis gewesen sein dürfte, und Anna
O’s Privattheater53 weisen beunruhigende Parallelen auf Freud verspricht
denn auch, sie werde, zurück in Wien, alle Bildungsmittel frei zugänglich
finden54 Vorerst aber beharrt er auf geistiger Erholung, der Entwicklung
altersentsprechender Interessen und Reflexion: Wenn Du dann hier bist,
49 AF-ME, Brief v 19 November 1925
50 King, Hysterie und weibliche Adoleszenz, S. 242 ff.
51 Breuer, Freud, Studien über Hysterie, S. 259.
52 Breuer, Freud, Studien über Hysterie, S. 61.
53 Breuer, Freud, Studien über Hysterie, S. 61.
54 SF-AF, S 104, Brief v 2 Februar 1913
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik