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ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
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etwa in die erste Hälfte seines Nachdenkens gehört.273 Zwei weitere Sze-
nen, die ans Ende gehören, wolle sie jetzt auch versuchen, vielleicht erst,
wenn Lou auf die vorgelegte geantwortet habe 274 Thema der kleinen
Textprobe ist bezeichnenderweise das missglückende Schreiben, speziel-
ler noch: das Verfassen einer Widmung für ein – sein? – Buch, das Hein-
rich Mühsam der Freundin Lisa geschenkt hat.275 Voraussetzung des
Schreibaktes an sich – das wird in der Szene klar – ist die Abwesenheit
des angesprochenen konkreten Du Aber was wäre die Voraussetzung
seines Gelingens? Im dargestellten Geschehen scheitert er – am Ende ei-
nes mühevollen Prozesses des Niederschreibens, Auslöschens und Wie-
der-Niederschreibens stehen ein paar ganz alltägliche, oft schon gebrauch-
te, nichtssagend freundliche Worte. Ihr selbst sei es nicht viel anders
gegangen wie ihrem Freund Heinrich Mühsam: sie habe es solange verklei-
nert und zusammengedrängt bis für den andern nicht mehr viel herauszu-
lesen ist.276 Lou geht postwendend auf diesen Konnex zwischen der Au-
torin und dem Protagonisten ein: mir war’s beim Lesen garnicht, als ob
Heinrich Mühsam, sondern als ob Du selbst da, weit hinübergelehnt über
den Tisch, Dir mit innersten Worten was aus dem Herzen herausschreiben
wolltest, und als ob irgend etwas Dich noch immer hinderte es zu tun ohne
Radiergummi oder ohne die heimliche Umsetzung in die weniger intime
Wirklichkeit. Nicht Lisa war Anlaß dann, sondern der Stoff ›Heinrich Müh-
sam‹ an sich, und der Grund der gerade an diesen Stoff Dich band: nicht um
mit seiner ›Resignation‹ zu enden, im Gegenteil um damit ein für allemal aus
einer Resignation zu geraten. Und insofern mir dabei nun so zumute war,
las ich es anders als ich Deine erzählten Stücke anhörte; mir war fast, wie
wenn es Dich auch deshalb ›ubw.‹ getrieben haben könnte, eben dieses
Stück zu senden. Aber noch aus anderer Ursache hob es sich vom Sonstigen
ab: weil infolge seiner Vereinzelung – anstelle der Folge worin Du sonst er-
zähltest, – dies Charakteristischeste fehlte: der Zusammenhang der inneres
Geschehen und äußere Aufeinanderfolge in eins band, und der mir am meis-
ten imponiert hat. So kam das Wunderliche zustande, daß es weniger un-
273 LAS-AF, I, S 84
274 LAS-AF, I, S 85
275 Nr. 63 / LAS-AF, I, S 84 f
276 LAS-AF, I, S 85
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik