Seite - 64 - in Anna Freud - Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Bild der Seite - 64 -
Text der Seite - 64 -
ANNA FREUDS LITERARISCHE TExTE EINFÜHRUNG
64
de ich ihn irgendwo hinunterzuschlucken versuchen, von wo er mir nicht
mehr bis zur Zunge hinaufsteigen kann. Daß ich aber Dich inzwischen mit
ihm belaste, von ihm berichte wie von einem kranken Kind, Stückchen von
ihm abreiße und Dir schicke, das beschämt mich sehr, mehr als ich es hier
schreiben kann.279 An dieser Stelle warnt Lou vor dem ›Hinunterschlu-
cken‹ – dem Verdrängungsakt und damit (…) förmliche[m] Verrat an An-
nas Vater (…) [D]ie Frage: ob und wie er gelingen mag, ist garnicht die
einzige, da die Tatsache selber daß er so symbolisch für Dich selber eintre-
ten kann (wie in dem Stückchen) noch eine andere Betrachtung seiner na-
helegt. Es könnte, z. B. sein, daß Du seiner bedarfst – sowohl als Symbolum
wie auch als fertig geformten Werkes, – damit sich darin absammeln könne,
was bislang noch an ›unmühsamem‹ Formen hinderte oder zögern ließ; und
das so Geschaffene kann dann sowohl künstlerisch mißlingend zum Opfer
werden, wie auch, unter Umständen, eines Künstlers dauernd Bestgeschaf-
fenes, oder auch alles dazwischen. Wichtig ist nur in jedem Fall, daß Du
seiner durchaus bedarfst, um, wie an einem Senfteich280, irgend was Ent-
zündliches, freie Atmung Erschwerendes, aus Dir hinwegzutun. Ich glaube,
all Dein Unbehagen jetzt manchmal und sogar Dein innerliches Bösesein auf
die Welt und die auswärtigen Freunde darin, das kommt alles vom H.M. und
diesen Grenzen von ›Wesen‹ und ›Schaffen‹ an denen entlang er sich den
Weg sucht. Nur er, nicht wir, wären Hilfe für Dich281 Anna reagiert mit Ent-
schuldigungen, Selbstbezichtigungen und Anpassungsversicherungen:
Natürlich habe ich mich nachträglich geschämt, daß ich Dir das Stückchen
geschickt habe, erstens weil mir das nachträglich immer unangenehm ist
und zweitens, weil ich mir ungefähr so vorgekommen bin wie ein Kaufmann,
der eine Warenprobe ausschickt, die Ware selber aber gar nicht besitzt. Jetzt
bin ich aber gar nicht mehr böse, weder auf die andere Welt, noch auf den
H.M. und mich selber. Mit den beiden letzteren möchte ich sogar sehr gerne
ein bißchen alleine sein, aber gerade das ist in der letzten Zeit gar nicht ge-
279 LAS-AF, I, S 89
280 »Auch Senfpflaster genannt; ein Hautreizmittel aus einem Brei aus frischem
Senfmehl und Wasser zur Behandlung von Bronchitis oder Lungenentzün-
dung « LAS-AF, II, S 706, Anm zu Nr 53
281 LAS-AF, I, S 91
Anna Freud
Gedichte – Prosa – Übersetzungen
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Anna Freud
- Untertitel
- Gedichte – Prosa – Übersetzungen
- Herausgeber
- Brigitte Spreitzer
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79497-4
- Abmessungen
- 13.5 x 21.0 cm
- Seiten
- 144
- Schlagwörter
- Anna Freud, Psychoanalyse, Literatur, Frauengeschichte, Geschichte des Judentums, Wiener Moderne
- Kategorien
- Weiteres Belletristik