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MobilitätundpopuläreKultur 115
hin,dass talentierteSängerinnenimmerLiebhaberhättenoderhabenmüssten.
All dieseMotive rundumdie populäreKultur griff Schnitzler nicht nur in
DerEmpfindsameauf. InderErzählungDasneueLied stehtdieGenesungder
erblindetenSoubretteMariaLadenbauer, „genanntdieweißeAmsel“,undihr
Auftritt samtPräsentationeinesneuenCouplets rundumdenVersuch, ihren
verlorenenLiebhaberKarlvonBreitenederzurückzuerobern.15Selbst inseiner
AutobiografieJugendinWienberichtetSchnitzlerübereineBeziehungmiteiner
jüdischenSängerin,dieerbaldbeendenmusste,weilsiezunächstals„Choristin
inihrSommerengagementaneineösterreichischeProvinzbühne“gingundihn
dannineinem„vergnügtenSchreiben“wissen ließ,„[…]daßsieeinekünstleri-
scheTourneealsTanzsängerinangetretenhabe,woraufsie fürmich[Arthur
Schnitzler]endgültigverschollenblieb“.16SchnitzlersErzählungenillustrieren,
dassMobilitätdieAusprägungvonGeschlechterrollen inderpopulärenKultur
beeinflusste; einPunkt,aufdendasKapitel späterzurückkommt.
InderMobilitätvonKünstler*innenundEnsemblesüberlagertensichBilder
undStereotypeüberReisende.Dass inSchnitzlersErzählungdieMutter ihre
Tochterbegleitete,warkeinZufall.UmdieJahrhundertwendemigriertennoch
immer tausendeMenschenausdenöstlichenGebietenderMonarchieund
dem russischenAnsiedlungsrayon,was nicht zuletzt gewissermaßen einen
mobilenSogderAnonymitätfürdenMädchenhandelbot.DieGefahrwurdeso
omnipräsent,dasssichbaldeineregelrechtePanikentwickelte.DieGesellschaft
fürchtete,dassalleinreisendeFrauen–Töchter,Ehegattinnen,Freundinnen–
OpferdesMenschenhandelswürden.TeilderPanikwardasStereotypevom
„jüdischenMädchenhändler“–einBildeinesvoneinerodermehrerenFrauen
begleitetenJuden,das imantisemitischenDiskursderZeitentstand.17
15 DieErzählungDasneueLiedpublizierteSchnitzler inder„Osterbeilage“derNeuenFreien
Presse am23.April 1905.Arthur Schnitzler,DasneueLied,NeueFreiePresse, 23.4.1905,
31–34.
16 ArthurSchnitzler, JugendinWien:EineAutobiografie[1968](FrankfurtamMain:Fischer
TaschenbuchVerlag,2012).
17 ZumantisemitischenHintergrunddiesesStereotypssiehe JohnW.Boyer,PoliticalRadicalism
inLate ImperialVienna:Originsof theChristianSocialMovement, 1848–1897 (Chicago:
UniversityofChicagoPress,1981),225–227; sowieKeelyStauter-Halsted,„AGenerationof
Monsters: Jews,Prostitution,andRacialPurity in the1892L’vivWhiteSlaveryTrail“,Austrian
HistoryYearbook 38 (2007): 25–35.Der antisemitischeDiskurs überlagerte sich auchmit
DiskussionenüberMenschenhandel, ‚whiteness‘and ‚Jewishness‘unterkolonialerPerspektive
undseparierte sogenannte„weißeSklav*innen“vonOpfernausSüdosteuropa.PetradeVries,
„‚White Slaves‘ in aColonialNation:TheDutchCampaignAgainst theTraffic inWomen
in theEarlyTwentiethCentury“, Social andLegal Studies 14, no. 1 (2005): 39–60, 45–48;
Stauter-Halsted,TheDevil’sChain,132;NancyM.Wingfield,TheWorldofProstitutionin
Late ImperialAustria (NewYork,Oxford:OxfordUniversityPress,2017),145–155,193–202;
© 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
https://doi.org/10.7767/9783205211884 | CC BY 4.0
Auf die Tour!
Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
Zwischen Habsburgermonarchie und Amerika
- Titel
- Auf die Tour!
- Untertitel
- Jüdinnen und Juden in Singspielhalle, Kabarett und Varieté
- Autor
- Susanne Korbel
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21188-4
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 272
- Kategorie
- Kunst und Kultur