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paul Binski
Affekt in der Gotik
Ein Zeichen der wachsenden Annäherung von kunsthistorischer Forschung und
den im englischsprachigen Raum als „Cultural Studies“ bezeichneten kulturwissen-
schaftlichen Untersuchungen ist das Auftreten der Emotionsforschung oder „Emo-
tionology“.1 Vor allem Mediävisten arbeiten mit der Vorstellung, dass es in der
religiösen Kultur des 11. bis 15. Jahrhunderts einen „Affective Turn“ gab, mit weit-
reichenden Folgen für bildende Künste und Literatur. Die These ist weithin akzep-
tiert, doch die zugrundeliegenden Überlegungen sind weder leicht zu überschauen
noch ohne weiteres verständlich. Im Folgenden möchte ich mich von ihnen dis-
tanzieren, wobei ich das Gefühl habe, dass zunächst geklärt werden muss, worin
der Untersuchungsgegenstand der Emotionsforschung in Bezug auf Kunstwerke
eigentlich besteht, damit sich deren Ergebnisse kritisch bewerten lassen. Wir begeg-
nen Emotionen nicht als historisch greifbaren Erfahrungen, sondern vielmehr als
Auslöser für andere Dinge, sei es in der Kunst, in der Sprache oder generell in der
materiellen Kultur. Ich habe nicht vor, Emotionen als Untersuchungsgegenstand
und damit eine ganze Forschungsrichtung in Frage zu stellen. Vielmehr möchte
ich gewisse Unschärfebereiche ausloten und Kunstwerke ebenso wie rhetorische
Konstrukte näher betrachten, die mit Emotionen (besser: mit Affekten) operieren.
Dazu begreife ich Emotionen nicht als Zweck, sondern als Mittel – eine wichtige,
allzu oft vernachlässigte Unterscheidung.2
In meiner Argumentation möchte ich zuerst (I) die rhetorische Vorstellung von
der günstigen Gelegenheit (occasio) erörtern und zweitens (II) den locus communis
behandeln, um zu einem besseren Verständnis der sozialen Kunstwahrnehmung zu
1 Zum Thema dieses Aufsatzes ausführlicher in meiner Monographie Gothic Sculpture.
New Haven / London 2019 (The Paul Mellon Centre for Studies in British Art). –
Zum Begriff „Emotionology“, der spätestens in den 1980er Jahren geprägt wurde, zum
Beispiel Peter N. Stearns / Carol Z. Stearns: Emotionology: Clarifying the History of
Emotions and Emotional Standards. In: The American Historical Review 90/4 (1985),
S. 813–836.
2 Zum weiten Forschungsfeld der mittelalterlichen Emotionen unter anderem Rüdiger
Schnell: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortsbestimmung.
In: Frühmittelalterliche Studien 38 (2004), S. 173–276; William M. Reddy: Historical
Research on the Self and Emotions. In: Emotion Review 1/4 (2009), S. 302–315; Jan
Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012.
Vgl. vor allem die nützliche Untersuchung über Emotionen als kulturelle Konstruktion
von Barbara H. Rosenwein: Anger’s Past: The Social Uses of an Emotion in the Middle
Ages. Ithaca / London 1998; ebenso ihre Studie Worrying about Emotions in History.
In: American Historical Review 107 (2002), S. 821–845, sowie Emotional Communities
in the Early Middle Ages. Ithaca 2006. Eine allgemeine Erörterung bietet John H. Ar-
nold: Inside and Outside the Medieval Laity: Some Reflections on the History of the
Emotions. In: European Religious Cultures. Essays offered to Christopher Brooke on
the Occasion of his Eightieth Birthday, hg. von Miri Rubin, London 2008, S. 107–129.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken