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affEkt in dEr Gotik
Künsten zu einer Vereinheitlichung, die nicht nur stilistischer Art ist, sondern eher
einen umfassenden Diskurs wiedergibt.4 Der französische Rayonnant-Stil hat sich
als lingua franca etabliert. Die gotischen Kirchen entsprachen einem Typus, der von
den frühgotischen französischen Kathedralen und ihren hoch- und spätgotischen
Nachfolgern festgelegt worden war.
Zumindest legt der stilistische Befund dies nahe. Wir stehen jedoch vor dem
Problem, dass wir zwar die objektiven Gemeinsamkeiten dieser Werke wahrneh-
men, aber mittelalterliche Äußerungen zur damaligen Kunsterfahrung äußerst be-
grenzt sind. Es ist bemerkenswert, dass die wirklich erstaunlichen Leistungen der
gotischen Kathedralbaukunst in keinem Verhältnis zu den mageren mittelalterli-
chen Berichten darüber stehen: Uns fehlt ein zeitgenössisches Vokabular zu den
Themen „Stil“ und „Kunstwahrnehmung“.5 Hierfür gibt es zumindest teilweise
eine Lösung, denn auf der Suche nach Belegen für Reaktionen, die unseren mo-
dernen Normen entsprechen, haben wir vielleicht an den falschen Stellen gesucht:
Wenn heutige Vorstellungen von Selbstwahrnehmung und psychologischer Tiefe,
Deutlichkeit oder Intensität als Leitbild dienen, müssen mittelalterliche Quellen
zwangsläufig „versagen“.
Bei der Begegnung mit einem Kunstwerk spielen zwei Dinge eine Rolle, die
künstlich hergestellt werden: Das Kunstwerk selbst und die Art und Weise der
Wahrnehmung durch ein Publikum, die bestimmten Konventionen unterworfen
ist. Die meisten Kunstwerke mit einem gewissen Anspruch haben einen Ausgangs-
punkt, einen Eingangsbereich für jeden Betrachter, für den ich den aus der Rheto-
riklehre entlehnten Begriff der günstigen Gelegenheit (occasio) verwenden möchte.
In einer Auseinandersetzung mit einem realen oder metaphorisch begriffenen Por-
tal oder einer Schwelle könnten Kunsthistoriker der Versuchung erliegen, die Limi-
nalitätstheorie von Arnold van Gennep anzuwenden.6 Das menschliche Leben ist
demnach von wichtigen Übergangsphasen bestimmt; der Schwellenbereich ist ein
Ort der Intensivierung und des Wandels, und ein reeller Eingang macht derartige
Veränderungen zu „Gegenständen“ der Wahrnehmung. Grundlegend für diese Li-
minalitätsvorstellung ist ihr dramatischer, auf Ausnahmesituationen ausgerichteter
Charakter. Das heißt, Erfahrungen dieser Art sind dankenswert selten.
Theorien zur Kunsterfahrung sollten dagegen auf das Normale, das Alltägliche
anwendbar sein. Das rhetorische Konzept von der günstigen Gelegenheit oder oc-
casio kann hier dem Liminalitätsbegriff entgegengesetzt werden. Die occasio ist ein
wichtiger Bestandteil der Rhetoriklehre: Sie bezeichnet den Kontext oder das Ziel
einer Äußerung. Bestimmte Aussagen sind dann am wirkungsvollsten, wenn eine
geeignete Gelegenheit, ein günstiger Anlass besteht. Die occasio weist uns die Rich-
tung für das, was richtig oder passend zu sagen oder zu schreiben ist. Sie leitet unser
Gefühl für das Decorum. Eine Türöffnung, sei sie in der Kirchenfassade oder in ei-
4 Dazu umfangreiche Literatur, vgl. Paul Williamson: Gothic Sculpture, 1140–1300. New
Haven und London 1995.
5 Zu einigen Aspekten der Begrifflichkeit zu Stil und Erfahrung siehe Paul Binski: Reflec-
tions on the “Wonderful Height and Size” of Gothic Great Churches and the Medieval
Sublime. In: C. Stephen Jaeger (Hg.): Magnificence and the Sublime in Medieval Aes-
thetics: Art, Architecture, Literature, Music. New York 2010, S. 129–156.
6 Arnold Van Gennep: Les rites de passage. Paris 1909; Henry Clay Trumbull: The
Threshold Covenant, or The Beginning of Religious Rites. Edinburgh 1896.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken