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paul Binski
und dann wirksam zu machen seien.32 Es ist bemerkenswert, dass sowohl Johannes
als auch Durandus die ethische Demonstration, die moralitas, besonders mit Skulp-
turen in Zusammenhang bringen.
Ich möchte bei Johannes de Garlandia und seinem Gebrauch des Worts figura
kurz innehalten. Der Begriff figura gehört zum rhetorischen Grundelement des
Stils, das heißt der Ausstattung eines Arguments durch Schmuck bzw. Ornament.
Ornamente in diesem Sinn sind nicht äußerlich hübsche Dinge wie in der nach-
mittelalterlichen Ästhetik, sondern Worte oder Formen, die für ein Werk in einem
bestimmten Zusammenhang (occasio) ausgewählt und ihm zugewiesen werden, um
ein bestimmtes Ziel zu erreichen. In Redekunst und bildender Kunst ist der latei-
nische Begriff figura die Entsprechung des griechischen schema mit der Bedeutung
Form, Figur, äußere Gestalt. Als um 1230 der nordfranzösische Kunstkompilator
Villard de Honnecourt zahlreiche Zeichnungen von Menschen, Tieren und Skulp-
turen über geometrischen Rastern in das berühmte Portfolio mit seinem Namen
aufnahm, stellte er eine Sammlung von figurae oder schemata für den Gebrauch
bei verschiedenen Gelegenheiten zusammen.33 Figurae, einschließlich der Haltung,
Rede und Gestik, sind kulturell vorbestimmt, wie Jean-Claude Schmitt in seiner
Studie über die Grundprinzipien – la raison – der Gesten aufgezeigt hat.34 Kunst-
werke „sprachen“ durch figurae.
Affekt und Artifizialität
Das führt uns direkt zu den methodischen Fragen, die sich aus der emotiven Les-
art solcher Skulpturen ergeben – ausgehend davon, dass solche Fragestellungen
die bildenden Künste auf einer allgemeineren Ebene betreffen. Zu der Zeit, als
das bemerkenswerte neue Nordportal des Doms von Erfurt in Thüringen um 1330
mit Darstellungen der klugen und törichten Jungfrauen ausgestattet wurde, zeigte
dieser neue „look“ bereits erste Anzeichen der Ermüdung. Das Portal (Abb. 5) hat
einen ungewöhnlichen dreieckigen Grundriss, der wie ein Keil aus dem nördlichen
Querhaus herausragt. Es gehört zu einem Bauprojekt im Osten des Doms, das seit
dem späten 13. Jahrhundert im Gange war.35 Auf jeder Seite befindet sich ein Portal,
so dass man von Norden aus beide Portale gleichzeitig sehen kann. Wählen wir un-
seren Zugang entsprechend! Die Portale weisen typische gotische figurae auf. Das
im Nordosten zeigt die Kreuzigung, Maria mit Kind sowie die Apostel, in gelasse-
ner, angemessener Haltung. Das Portal im Südosten zeigt die klugen und törichten
Jungfrauen, Ecclesia und Synagoge sowie eine schwierig zu deutende Deësis mit
Christus, einem Kruzifixus, Maria und Johannes dem Täufer im Tympanon. Die
32 Guillelmi Durandus Rationale Divinorum Officiorum I–IV, übers. von Anselmus
Davril / Timothy M. Thibodeau, Turnhout 1995 (Corpus Christianorum, Continuatio
Medievalis 140), S. 41–42 (I. iii. 22): Ceterum sculpture prominentes de parietibus egredien-
tes ecclesie videntur, quia cum virtutes fidelibus in tantam consuetudinem deveniunt ut eis
naturaliter insite videantur, multifariis earum operationibus exercentur.
33 Carl F. Barnes: The Portfolio of Villard de Honnecourt. Farnham 2009.
34 Schmitt, La raison des gestes (wie Anm. 28).
35 Edgar Lehmann / Ernst Schubert: Dom und Severikirche zu Erfurt. Stuttgart 1988,
S. 15–18, 148–151.
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken