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christinE JakoBi-mirwald
die Bedeutung des Buchkusses im Sakramentar habe ich in diesem Zusammenhang
schon hingewiesen:47 Nur im Sakramentar bzw. Missale lassen sich die entsprechen-
den Abreibungen in diesem Maß an einer Stelle festmachen, und aus ihrem Fehlen
kann nahezu sicher geschlossen werden, dass das Buch nicht liturgisch verwendet
wurde.48 Im Kommentar des Faksimiles bezeichnet Felix Heinzer in Übereinstim-
mung mit meiner Einschätzung49 das Berthold-Sakramentar als Repräsentations-
oder Schatzhandschrift50 und zitiert eine Untersuchung Éric Palazzos von 1997:51
„le trésor apparaît comme l’élément principal de la mémoire spirituelle d’un lieu,
comme un monastère par exemple, [...] Après les reliques, les livres sont les objets
du trésor dont la signification symbolique touche le plus directement la fonction
mémoriale.“52 Abt Bertholds Absicht, mit diesem Sakramentar in den Porträts und
dem Bücherverzeichnis die memoria seiner Person zu sichern, ist ihm mehr als ge-
lungen, verbinden wir doch heute sowohl den Codex selbst als auch den ausführen-
den Künstler untrennbar mit seinem Namen.
Dennoch ist diese starke „Personalisierung“ noch nicht das Bemerkenswerteste an
diesem Buch, sondern vielmehr sein archaisierendes Gepräge. In diesem Zusam-
menhang sei noch einmal das Augenmerk auf die vielen Ziernähte gerichtet: eng
geführte Stoßnähte mit gezacktem Kontur, in weißen, rosafarbenen, violetten und
blassgrünen Seidenfäden, wobei der wechselständige Farbwechsel darauf verweist,
dass nicht alternierend (wie beim Schnürsenkelschnüren) gearbeitet wurde, son-
dern erst eine Seite in Schlingstich versäubert und dann die zweite in einer ande-
ren Farbe angenäht wurde. Beispiele sind etwa auf fol. 127 zu sehen (Abb. 1).53 Sie
47 Jakobi-Mirwald, Kreuzigung und Kreuzabnahme (zit. Anm. 18), S. 200–201. Zum
Buchkuss, der im Missale weniger geregelt ist als der des Evangeliums, vgl. Rudolf Sun-
trup: Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und
deutschen Auslegungen des 9.–13. Jahrhunderts. München 1978 (Münstersche Mittelal-
ter-Schriften 37), S. 362–379 (Der liturgische Kuss), bes. S. 370 m. Anm. 41; Christopher
de Hamel: A History of Illuminated Manuscripts. London 1986, S. 190, Abb. 197; sowie
Kathryn M. Rudy: Dirty Books: Quantifying Patterns of Use in Medieval Manuscripts
Using a Densitometer. In: Journal of Historians of Netherlandish Art 2: 1–2 (Summer
2010), https://jhna.org/wp-content/uploads/2017/08/JHNA_2.1-2_Rudy.pdf (aufgeru-
fen 17.3.2020).
48 Kein anderer Buchtyp weist diese Zentrierung auf, auch im Evangeliar/Evangelistar bzw.
Lektionar fand nicht eine derartige Zentrierung auf einen Ort statt: Das Buch wurde
und wird an der jeweiligen Stelle der Lesung geküsst.
49 Jakobi-Mirwald, Kreuzigung und Kreuzabnahme (zit. Anm. 18), S. 201.
50 Heinzer in: Das Berthold Sakramentar 2013–2014 (zit. Anm. 10), Bd. 2, S. 36–38.
51 Éric Palazzo: Le livre dans les trésors du Moyen Age. Contribution à l’histoire de la Me-
moria médiévale. In: Annales. Histoire, Sciences sociales 52 (1997), S. 93–118.
52 Ebd. S. 102–104.
53 Zur Deutung der Schnitte vgl. bereits Jakobi-Mirwald, Kreuzigung und Kreuzabnah-
me (zit. Anm. 18), S. 200. Genäht sind zum Beispiel foll. 16, 20, 75, 76, 78, 83, 85, 86,
88, 89, 94, 96, 99, 102, 104, 108, 114, 119, 120, 122, 123, 127, 131. Die Einschnitte ragen
mitunter maximal 1–2 cm in die Miniaturen hinein und sind dort übermalt, die Nähte
erweisen sich als nachträglich, da sie stets vor dem Miniaturrahmen Halt machen. Man
hat demnach erst geschrieben und gemalt und dann genäht, und da zwei Nähte durch
den Bund gehen, erst nach dem Nähen gebunden – ein etwas komplizierter Vorgang,
der aber die These der Verwerfung durch zu feuchte Malerei klar widerlegt. – Zur No-
menklatur, einem Ergebnis einer Vortragsreihe am 34. Österreichischen Bibliothekartag
Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Titel
- Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert
- Autor
- Christine Beier
- Herausgeber
- Michaela Schuller-Juckes
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21193-8
- Abmessungen
- 18.5 x 27.8 cm
- Seiten
- 290
- Kategorien
- Geschichte Chroniken