Seite - 77 - in WAS BITS UND BÄUME VERBINDET - Digitalisierung nachhaltig gestalten
Bild der Seite - 77 -
Text der Seite - 77 -
welches andere System könnte so gut neue grüne In-
frastrukturen schaffen und nachhaltige Produktions-
und Konsummuster etablieren? Mit anderen Worten:
Der Kapitalismus soll vor den grünen Karren gespannt
werden. Der zweite Grund für das Festhalten am kapi-
talistischen System ist, dass wir keine Zeit haben, ihn
zu überwinden. Beim Klimawandel bleiben nur weni-
ge Jahre, höchstens Jahrzehnte – da kann man nicht
parallel noch schnell den Kapitalismus überwinden.
Wie das funktionieren kann oder eben nicht, schauen
wir uns im Bereich Verkehr genauer an.
DIE ALTERNATIVE ZUM PRIVATAUTO:
CARSHARING ODER BUS UND BAHN?
Die Unternehmen des Silicon Valley treten an, die Mo-
bilität der Zukunft als IT-Service zu gestalten, und
fordern damit die klassischen Industrien heraus. Ihre
Vision ist ein ‹smarter› Verkehr, der mit Daten und
Algorithmen gesteuert wird. Plattformkapitalistische
Geschäftsmodelle rund um kostenlose Services und
die Sammlung von Userdaten sollen die Nutzung fos-
siler Energieträger und den ‹dummen›, nicht vernetz-
ten Verkehr ablösen. Die Akteure aus dem Silicon Val-
ley versprechen uns eine smarte Zukunft, die Lösung
ökologischer Probleme mithilfe von Algorithmen und
Technologie, und das ganz ohne grundlegende gesell-
schaftliche Veränderung – ein generelles Charakte-
ristikum der kalifornischen Ideologie. Der Einsatz von
viel Kapital, gepaart mit dem Markt, soll es richten.
Plattformen dieses neuen Verkehrsmodells drän-
gen auch in Deutschland auf den Markt: die Privat-
fahrtenvermittlung Uber, Taxi-Vermittlungs-Apps
wie MyTaxi, Carsharinganbieter wie DriveNow und
Plattformen für die Autovermietung zwischen Pri-
vatpersonen wie Tamyca und Drivy. All diesen An-
geboten ist gemeinsam, dass der Zugriff auf einen
Service den Besitz eines Produkts ablöst. Mit einer
‹Ökonomie des Teilens› oder ‹kollaborativem Wirt-
schaften› haben diese allerdings wenig zu tun – sie
sind von Unternehmen betriebene neue Nutzungs-
formen, bei denen die Profitabilität der Plattform im
Vordergrund steht.5
Von einer sinkenden Umweltbelastung der Städte
Europas durch die Automobilflut ist allerdings noch
nichts zu spüren. Im Gegenteil: Fahrten mit den neuen
Flotten, insbesondere der Point-to-Point-Carsharing-
angebote, ersetzen eher Fahrten mit dem öffentlichen
Personennahverkehr, als dass sie einen nachweisba-
ren Effekt auf die Anschaffung und den Betrieb von
Privatfahrzeugen hätten.6 Das ist auch kein unerwünschter Nebeneffekt, son-
dern erklärtes Ziel: In einer einzigen Presseerklärung
verkündete Uber, den Privatbesitz an PKWs überflüssig
machen zu wollen – Traumszenario für die Verkehrs-
wende. Im selben Atemzug drückte Ubers Chief Exe-
cutive Officer Dara Khosrowshahi auch seine Absicht
aus, den öffentlichen Personenverkehr durch seinen
Service zu ersetzen: «Ich möchte das Bus-System für
eine Stadt betreiben.»7
Die Wissenschaftler Brand und Wissen ziehen ein
ernüchterndes Fazit über die Bestrebungen des di-
gitalen Verkehrssystem: «Im Kern handelt es sich bei
den beschriebenen marktfähigen und technologiefixierten
Strategien einer Ökologisierung der Automobilität also
um den Versuch, die imperiale Lebensweise durch die
selektive ökologische Modernisierung […] auf Dauer zu
stellen.»8 Doch das gilt wohl nicht nur für das derzeit
entstehende digitale Verkehrssystem, sondern – wie
wir im folgenden Abschnitt sehen werden – für auf
Wirtschaftswachstum ausgerichteten digitalen Kapi-
talismus insgesamt.
DIE WACHSTUMSLOGIK BLEIBT ERHALTEN
In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts
gelang der amerikanischen Automobilindustrie in-
mitten der Weltwirtschaftskrise eine bahnbrechende
Erfindung. Keine technische allerdings, sondern eine
des Marketings: «Jedes Jahr ein neues Auto!» Alfred Slo-
an forderte, die «Änderungen am neuen Modell sollten
so neu und attraktiv sein, dass eine Nachfrage entsteht
[...] bis zu einer gewissen Unzufriedenheit mit früheren
[Modellen]»9 Der Chef von General Motors hatte damit
die dynamische Obsoleszenz erfunden. Letztendlich
sollte diese Strategie der Einführung von Produkten
mit bewusst begrenzter Haltbarkeitsdauer zu einem
Schlüsselelement der amerikanischen (und globalen)
Konsumwirtschaft werden.
Diese Logik setzt sich in der digitalen Version des
Kapitalismus fort. Heute ist es nicht nur ‹Jedes Jahr ein
neues Auto›, sondern außerdem ‹Jedes Jahr ein neues
Smartphone›. Genauer gesagt: Neben kontinuierlich
neue Autos treten kontinuierlich neue Smartphones.
Und selbst bei den Autos wirkt die Digitalisierung als
Wachstumsbeschleuniger: Was aktuelle Autos von
Versionen vor ein paar Jahren unterscheidet, hat
immer auch etwas mit digitalen Möglichkeiten zu tun:
Einparkhilfen, Ansätze autonomen Fahrens, Außen-
kameras und anderem mehr. Auch werden die Autos
hierdurch immer schwieriger zu reparieren – was die
Abhängigkeit von den Konzernen weiter steigen lässt. ///077
1
0
0
1
1
0
1
WAS BITS UND BÄUME VERBINDET
Digitalisierung nachhaltig gestalten
- Titel
- WAS BITS UND BÄUME VERBINDET
- Untertitel
- Digitalisierung nachhaltig gestalten
- Autor
- Anja Höfner
- Herausgeber
- Vivian Frick
- Verlag
- oekom verlag
- Ort
- München
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 3.0
- ISBN
- 978-3-96238-149-3
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 152
- Schlagwörter
- Digitalisierung, Entwicklungszusammenarbeit, Politik, Ressourceneffizienz, Nachhaltigkeitskommunikation
- Kategorien
- Informatik
- Technik