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das deutsche Gesundheitssystem zu jedem Zeitpunkt ihres bisherigen Ver-
laufs weit von der befürchteten Überlastung entfernt war. Viele Kranken-
häuser hatten durch die Umwidmung anderer intensivmedizinischer Be-
handlungsressourcen und die Bereitstellung zusätzlicher Betten ihre Kapa-
zität so erweitert, dass sie eher über eine mangelnde Auslastung (auch weil
bereits geplante Behandlungen anderer Patienten verschoben wurden)
klagten. Doch beim Erscheinen des DER-Papiers schien das Worst-Case-
Szenario, das durch den Lockdown unbedingt verhindert werden sollte,
noch nicht endgültig gebannt. Für diese damals im Bereich des Möglichen
liegende Situation, wenn tatsächlich nicht mehr ausreichend intensivmedi-
zinische Ressourcen für alle behandlungsbedürftigen Infizierten zur Verfü-
gung stünden, waren die vom DER vorgeschlagenen ethischen Entschei-
dungshilfen gedacht. Derartige Triage-Konstellationen werfen schwerwie-
gende Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf, in denen es für die Betrof-
fenen um Leben und Tod gehen kann. Deshalb kann es, so betont die Stel-
lungnahme, „für manche dieser Konstellationen […] keine rechtlich und
ethisch umfassend befriedigende Lösung“ (S.3) geben.
Für das ärztliche Ethos stellt die Notwendigkeit, unter den Bedingun-
gen von Unsicherheit knappe Behandlungsressourcen bestimmten Patien-
ten zuzuordnen und sie damit anderen vorzuenthalten, eine besondere He-
rausforderung dar. Diese ist dadurch bestimmt, dass die Maxime, das Wohl
des einzelnen Kranken als oberste Richtschnur aller ärztlichen Maßnah-
men anzusehen, der Ergänzung durch eine Berücksichtigung der allgemei-
nen Gefahrenlage und der an sich ebenfalls erforderlichen Gesundheitsfür-
sorge für die große Zahl anderer als an Corona erkrankter Patienten be-
darf, für die keine weiteren Behandlungsplätze mehr zur Verfügung ste-
hen. Die mit dieser Öffnung des ärztlichen Pflichtenkreises verbundene
Notwendigkeit von Priorisierungsentscheidungen kann das medizinische
Personal vor unlösbare Dilemmata führen, in denen fundamentale Prinzi-
pien des Rechts und der Ethik miteinander kollidieren. Die Stellungnah-
me des Ethikrats beschreibt diesen Konflikt in aller Schärfe, gibt aber kei-
ne konkreten Kriterien an die Hand, an denen sich die Entscheidungsfin-
dung orientieren könnte. Offenbar war über eine Liste positiver Entschei-
dungskriterien unter den Mitglieder des Ethikrates keine Verständigung
zu erzielen, so dass sich die Stellungnahme auf Erwägungen allgemeiner
Art beschränken musste.
Diese Überlegungen heben in aller wünschenswerten Deutlichkeit zwei
Grundsätze hervor, in denen Rechtsordnung und Ethik (zumindest eine
autonomiebasierte Ethik, die dem individuellen Rechtsschutz aufgrund
der Menschenwürde oberste Priorität einräumt) übereinstimmen. Dies
sind die beiden Grundsätze der Lebenswertindifferenz und des Instrumentali-
Eberhard Schockenhoff
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Buch Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik