Seite - 96 - in Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
Bild der Seite - 96 -
Text der Seite - 96 -
In die Debatte brachte sich am 10. MĂ€rz 2020 auch die Nationale Pfle-
gekammer NFOPI ein und zwar auf derselben Linie wie der Ărztekammer-
prÀsident (vgl. NFOPI 2020). Im Wesentlichen werden zwei Aspekte be-
tont: Erstens, dass âjeder Patient das gleiche Recht auf Gesundheit und Zu-
gang zur Pflege hatâ und zweitens, dass die Entscheidung, wem welche
Therapie zugestanden wird, nicht ökonomischen KalkĂŒlen unterliegen
dĂŒrfe. Zwar wird eingerĂ€umt, dass die Ăberlebenswahrscheinlichkeit
grundsÀtzlich eines von mehreren Kriterien beim Zugang zur Intensivpfle-
ge darstellt, es sei aber âunvorsichtig und unklugâ, dieses Kriterium im
Kontext der COVID-19-Pandemie zu betonen. Es dĂŒrfe nicht der Eindruck
erweckt werden, dass es Menschenleben gÀbe, die mehr bzw. weniger zÀh-
len wĂŒrden als andere.
Zustimmende Reaktionen auf das SIAARTI-Dokument
Die negativen Kritiken der italienischen Ărzte- und Pflegekammer blieben
nicht unbeantwortet. Als Beispiele sollen die Repliken des Moralphiloso-
phen Maurizio Mori, Mitglied des Nationalen Bioethikkomitees, vom
13. MÀrz 2020 sowie des AnÀsthesisten Davide Mazzon, Mitglied des
Ethikkomitees der SIAARTI, vom 14. MĂ€rz 2020 angefĂŒhrt werden.
Moris Replik (Mori 2020) kann an drei zentralen Argumenten darge-
stellt werden. Erstens kritisiert er, Anelli wĂŒrde Gleichheit mit IdentitĂ€t
verwechseln. Das Gleichheitsprinzip fordere gerade nicht, alle Patientin-
nen und Patienten gleich zu behandeln, sondern eine Behandlung so gut
wie möglich zu personalisieren, um jedem Patienten die fĂŒr ihn am besten
geeignete Behandlung zuteil werden zu lassen. Bezugspunkt ist dabei die
âgemeinsame Menschlichkeitâ (âComune UmanitĂ â) jedes Patienten und
die Pflicht, sein Leben zu schĂŒtzen. Der in Artikel drei des deontologi-
schen Ărztekodex18 genannte Schutz des Lebens aber verlange nicht die Er-
haltung des Lebens um jeden Preis, sondern die Angemessenheit einer Be-
handlung in Bezug zu setzen zur konkreten Gesundheitssituation eines Pa-
tienten. Dies bedeutet kein Urteil ĂŒber den Wert des Lebens eines Patien-
ten, sondern ĂŒber die Angemessenheit und Wirksamkeit einer Therapie,
Leben nicht nur zu erhalten, sondern auch LebensqualitÀt zu gewÀhrleis-
ten. Das zweite Argument Moris ist deshalb der Paradigmenwechsel vom
Schutz des Lebens hin zu einer Garantie einer guten LebensqualitÀt auch
am Ende des Lebens, was die Beachtung des Patientenwillens, die Vermei-
3.2
18 Vgl. oben, Anmerkung 17.
Martin M. Lintner
96
https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
zurĂŒck zum
Buch Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, MenschenwĂŒrde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik