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In die Debatte brachte sich am 10. März 2020 auch die Nationale Pfle-
gekammer NFOPI ein und zwar auf derselben Linie wie der Ärztekammer-
präsident (vgl. NFOPI 2020). Im Wesentlichen werden zwei Aspekte be-
tont: Erstens, dass „jeder Patient das gleiche Recht auf Gesundheit und Zu-
gang zur Pflege hat“ und zweitens, dass die Entscheidung, wem welche
Therapie zugestanden wird, nicht ökonomischen Kalkülen unterliegen
dürfe. Zwar wird eingeräumt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit
grundsätzlich eines von mehreren Kriterien beim Zugang zur Intensivpfle-
ge darstellt, es sei aber „unvorsichtig und unklug“, dieses Kriterium im
Kontext der COVID-19-Pandemie zu betonen. Es dĂĽrfe nicht der Eindruck
erweckt werden, dass es Menschenleben gäbe, die mehr bzw. weniger zäh-
len wĂĽrden als andere.
Zustimmende Reaktionen auf das SIAARTI-Dokument
Die negativen Kritiken der italienischen Ärzte- und Pflegekammer blieben
nicht unbeantwortet. Als Beispiele sollen die Repliken des Moralphiloso-
phen Maurizio Mori, Mitglied des Nationalen Bioethikkomitees, vom
13. März 2020 sowie des Anästhesisten Davide Mazzon, Mitglied des
Ethikkomitees der SIAARTI, vom 14. März 2020 angeführt werden.
Moris Replik (Mori 2020) kann an drei zentralen Argumenten darge-
stellt werden. Erstens kritisiert er, Anelli würde Gleichheit mit Identität
verwechseln. Das Gleichheitsprinzip fordere gerade nicht, alle Patientin-
nen und Patienten gleich zu behandeln, sondern eine Behandlung so gut
wie möglich zu personalisieren, um jedem Patienten die für ihn am besten
geeignete Behandlung zuteil werden zu lassen. Bezugspunkt ist dabei die
„gemeinsame Menschlichkeit“ („Comune Umanità “) jedes Patienten und
die Pflicht, sein Leben zu schĂĽtzen. Der in Artikel drei des deontologi-
schen Ärztekodex18 genannte Schutz des Lebens aber verlange nicht die Er-
haltung des Lebens um jeden Preis, sondern die Angemessenheit einer Be-
handlung in Bezug zu setzen zur konkreten Gesundheitssituation eines Pa-
tienten. Dies bedeutet kein Urteil ĂĽber den Wert des Lebens eines Patien-
ten, sondern ĂĽber die Angemessenheit und Wirksamkeit einer Therapie,
Leben nicht nur zu erhalten, sondern auch Lebensqualität zu gewährleis-
ten. Das zweite Argument Moris ist deshalb der Paradigmenwechsel vom
Schutz des Lebens hin zu einer Garantie einer guten Lebensqualität auch
am Ende des Lebens, was die Beachtung des Patientenwillens, die Vermei-
3.2
18 Vgl. oben, Anmerkung 17.
Martin M. Lintner
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, MenschenwĂĽrde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik