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Kantianismus mindestens auch von Mills Freiheitsschrift inspiriert ist, wo-
mit allein schon ein prinzipieller Gegensatz Kant – Utilitarismus fraglich
wird. Mill hält allerdings nicht viel von Rechten:
Ich halte es für geraten, dass ich auf jeden Vorteil verzichte, den man
für meine Beweisführung aus der Idee eines abstrakten, vom Nützlich-
keitsprinzip unabhängigen Rechtes ableiten könnte. Ich betrachte
Nützlichkeit [utility] als letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fra-
gen, aber es muss Nützlichkeit im weitesten Sinne sein, begründet in
den ewigen Interessen der Menschheit als eines sich entwickelnden
Wesens.13
Mills zentrales Anliegen betrifft die Möglichkeit der Anwendung von
Zwang: „Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen
den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig
ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.“14 Bei Mill ist
diese Aussage allerdings auch sozialethisch motiviert. Kant setzt dagegen
bei der gleichen Freiheit aller an: Zwang ist nur erlaubt als „als Verhinde-
rung eines Hindernisses der Freiheit“.15 Für Mill dagegen ist eine autoritär
geprägte und allzu konforme Gesellschaft dem Wohl der Menschen bzw.
eines Gemeinwesens abträglich. Entsprechend ist das dritte Kapitel der
Freiheitsschrift überschrieben: „Über Individualität als eins der Elemente
der Wohlfahrt“.
Positionen wie die von Nozick und Dworkin wären gemäß einer gängi-
gen Unterscheidung in der normativen Ethik als deontologisch einzuord-
nen, eine Position, für die eine Handlung nicht oder nicht allein durch
ihren Beitrag zur Wohlfahrt (well-being) oder zum Nutzen (utility, expedien-
cy) zu rechtfertigen ist, wie es eine teleologische (konsequentialistische, pro-
Einzelne seine Identität und Individualität selbstbestimmt finden [...] kann. Na-
mentlich die selbstbestimmte Wahrung der eigenen Persönlichkeit setzt voraus,
dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in
Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen
Selbstbild und Selbstverständnis stehen“. Hier wären freilich bestimmte Lebens-
formen, die andere Menschen schädigen (Sadismus, Pädophilie) auszuschließen,
womit sich zeigt, dass der Ausdruck der Menschenwürde in diesem Sinne seine
Grenzen hat. Die moralische Gesinnung des Menschen, auf die Kant die Würde
gründet, kann dagegen nicht in Konkurrenz zu der eines Mitmenschen treten.
13 Mill, Liberty, 37. Der Gedankengang und die zentralen Thesen dieser Schrift sind
gut aufgelistet bei Bernd Gräfrath, John Stuart Mill.
14 Mill, Liberty, 35.
15 Kant, Metaphysik der Sitten, VI 231.
Kantianismus, Utilitarismus und die Menschenwürde
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Buch Die Corona-Pandemie - Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise"
Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Titel
- Die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Autoren
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Herausgeber
- Walter Schaupp
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 448
- Schlagwörter
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Kategorien
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik