Seite - 6 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 6 -
Text der Seite - 6 -
gemeint«, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im
Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es auf den ersten
Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war das Wohnzimmer der
Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzellan und
Photographien überfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst, man
erkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der
Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenen Fenster mit einem
Buch saß, von dem er jetzt aufblickte. »Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben
sollen! Hat es Ihnen denn Franz nicht gesagt?« »Ja, was wollen Sie denn?«
sagte K. und sah von der neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten,
der in der Tür stehengeblieben war, und dann wieder zurück. Durch das
offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft
greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten
war, um auch weiterhin alles zu sehen. »Ich will doch Frau Grubach -«, sagte
K., machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern los, die
aber weit von ihm entfernt standen, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der
Mann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. »Sie
dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.« »Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das
zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun
einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe
über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber
ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle
Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben
wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.«
K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmer keine
Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. »Sie werden noch
einsehen, wie wahr das alles ist«, sagte Franz und ging gleichzeitig mit dem
andern Mann auf ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und
klopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide prüften K.s Nachthemd und sagten,
daß er jetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehen müssen, daß sie aber
dieses Hemd wie auch seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine
Sache günstig ausfallen sollte, ihm wieder zurückgeben würden. »Es ist
besser, Sie geben die Sachen uns als ins Depot«, sagten sie, »denn im Depot
kommen öfters Unterschleife vor und außerdem verkauft man dort alle
Sachen nach einer gewissen Zeit, ohne Rücksicht, ob das betreffende
Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und wie lange dauern doch derartige
Prozesse, besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann schließlich allerdings
vom Depot den Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon gering, denn
beim Verkauf entscheidet nicht die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe
der Bestechung, und weiter verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß,
wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.« K.
6
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155