Seite - 11 - in Der Prozeß
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begann, sich sorgfältig anzuziehen. Im geheimen glaubte er, eine
Beschleunigung des Ganzen damit erreicht zu haben, daß die Wächter
vergessen hatten, ihn zum Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich
vielleicht daran doch erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht
ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K.
anziehe, zum Aufseher zu schicken.
Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das
leere Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden
Flügeln bereits geöffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K. genau wußte, seit
kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt,
die sehr früh in die Arbeit zu gehen pflegte, spät nach Hause kam und mit der
K. nicht viel mehr als die Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das
Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungstisch in die Mitte des
Zimmers gerückt, und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beine
übereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles
gelegt.
In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute und sahen die
Photographien des Fräulein Bürstner an, die in einer an der Wand
aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des offenen Fensters hing eine
weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten,
doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen, sie weit
überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der
seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte. »Josef K.?«
fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute Blicke auf sich zu
lenken. K. nickte. »Sie sind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl
sehr überrascht?« fragte der Aufseher und verschob dabei mit beiden Händen
die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen lagen, die Kerze mit
Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er
zur Verhandlung benötige. »Gewiß«, sagte K., und das Wohlgefühl, endlich
einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seine
Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiß, ich bin
überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr
überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des
Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. »Sie
mißverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine« -
hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um. »Ich kann mich
doch setzen?« fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich
meine«, sagte nun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr überrascht,
aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat
durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen
abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.«
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155