Seite - 30 - in Der Prozeß
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unter großem Gelächter unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als
karikiere er jemanden. Der Junge, der K. führte, hatte Mühe, seine Meldung
vorzubringen. Zweimal hatte er schon, auf den Fußspitzen stehend, etwas
auszurichten versucht, ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein.
Erst als einer der Leute oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam
machte, wandte sich der Mann ihm zu und hörte hinuntergebeugt seinen
leisen Bericht an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin. »Sie
hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen«, sagte er. K.
wollte etwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann
ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfte ein allgemeines Murren.
»Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen«,
wiederholte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch schnell in
den Saal hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker und verlor sich, da
der Mann nichts mehr sagte, nur allmählich. Es war jetzt im Saal viel stiller
als bei K.s Eintritt. Nur die Leute auf der Galerie hörten nicht auf, ihre
Bemerkungen zu machen. Sie schienen, soweit man oben in dem Halbdunkel,
Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte, schlechter angezogen zu sein
als die unten. Manche hatten Polster mitgebracht, die sie zwischen den Kopf
und die Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken.
K. hatte sich entschlossen, mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen
verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens
und sagte bloß: »Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.« Ein
Beifallklatschen, wieder aus der rechten Saalhälfte, folgte. Leicht zu
gewinnende Leute, dachte K. und war nur gestört durch die Stille in der
linken Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nur ganz
vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen
könnte, um alle auf einmal oder, wenn das nicht möglich sein sollte,
wenigstens zeitweilig auch die anderen zu gewinnen.
»Ja«, sagte der Mann, »aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu
verhören« - wieder das Murren, diesmal aber mißverständlich, denn der Mann
fuhr, indem er den Leuten mit der Hand abwinkte, fort, - »ich will es jedoch
ausnahmsweise heute noch tun. Eine solche Verspätung darf sich aber nicht
mehr wiederholen. Und nun treten Sie vor!« Irgend jemand sprang vom
Podium hinunter, so daß für K. ein Platz frei wurde, auf den er hinaufstieg. Er
stand eng an den Tisch gedrückt, das Gedränge hinter ihm war so groß, daß er
ihm Widerstand leisten mußte, wollte er nicht den Tisch des
Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom Podium
hinunterstoßen.
Der Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nicht darum, sondern saß
recht bequem auf seinem Sessel und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155