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grüßte mit der Hand zu K. hinunter und suchte durch Auf- und Abziehen der
Schultern zu zeigen, daß sie an der Entführung unschuldig sei, viel Bedauern
lag aber in dieser Bewegung nicht. K. sah sie ausdruckslos wie eine Fremde
an, er wollte weder verraten, daß er enttäuscht war, noch auch, daß er die
Enttäuschung leicht überwinden könne.
Die zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der Tür.
Er mußte annehmen, daß ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit der
Angabe, daß sie zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen
habe. Der Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden sitzen
und warten. Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man sie auch ansah. Da
bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, ging hinüber und las in
einer kindlichen, ungeübten Schrift: »Aufgang zu den Gerichtskanzleien.«
Hier auf dem Dachboden dieses Miethauses waren also die
Gerichtskanzleien? Das war keine Einrichtung, die viel Achtung einzuflößen
imstande war und es war für einen Angeklagten beruhigend, sich
vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur Verfügung standen,
wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietsparteien, die schon
selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram hinwerfen. Allerdings
war es nicht ausgeschlossen, daß man Geld genug hatte, daß aber die
Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für Gerichtszwecke verwendet
wurde. Das war nach den bisherigen Erfahrungen K.s sogar sehr
wahrscheinlich, nur war dann eine solche Verlotterung des Gerichtes für einen
Angeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde noch beruhigender, als es
die Armut des Gerichtes gewesen wäre. Nun war es K. auch begreiflich, daß
man sich beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten auf den Dachboden
vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu belästigen. In welcher
Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter, der auf dem Dachboden
saß, während er selbst in der Bank ein großes Zimmer mit einem Vorzimmer
hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den belebten Stadtplatz
hinuntergehen konnte! Allerdings hatte er keine Nebeneinkünfte aus
Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte sich auch vom Diener keine
Frau auf dem Arm ins Büro tragen lassen. Darauf wollte K. aber, wenigstens
in diesem Leben, gerne verzichten.
K. stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe heraufkam,
durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch das
Sitzungszimmer sehen konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor
kurzem eine Frau gesehen habe. »Sie sind der Gerichtsdiener, nicht?« fragte
K. »Ja«, sagte der Mann, »ach so, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne
ich Sie auch, seien Sie willkommen.« Und er reichte K., der es gar nicht
erwartet hatte, die Hand. »Heute ist aber keine Sitzung angezeigt«, sagte dann
der Gerichtsdiener, als K. schwieg. »Ich weiß«, sagte K. und betrachtete den
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155