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gelegentlich den Studenten in Behandlung zu nehmen.« »Ich wäre Ihnen sehr
dankbar«, sagte der Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien eigentlich doch
nicht an die Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu glauben. »Es würden
vielleicht«, fuhr K. fort, »auch noch andere Ihrer Beamten und vielleicht
sogar alle das gleiche verdienen.« »Ja, ja«, sagte der Gerichtsdiener, als
handle es sich um etwas Selbstverständliches. Dann sah er K. mit einem
zutraulichen Blick an, wie er es bisher trotz aller Freundlichkeit nicht getan
hatte, und fügte hinzu: »Man rebelliert eben immer.« Aber das Gespräch
schien ihm doch ein wenig unbehaglich geworden zu sein, denn er brach es
ab, indem er sagte: »Jetzt muß ich mich in der Kanzlei melden. Wollen Sie
mitkommen?« »Ich habe dort nichts zu tun«, sagte K. »Sie können die
Kanzleien ansehen. Es wird sich niemand um Sie kümmern.« »Ist es denn
sehenswert?« fragte K. zögernd, hatte aber große Lust, mitzugehen. »Nun«,
sagte der Gerichtsdiener, »ich dachte, es würde Sie interessieren.« »Gut«,
sagte K. schließlich, »ich gehe mit.« Und er lief schneller als der
Gerichtsdiener die Treppe hinauf.
Beim Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine
Stufe. »Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht«, sagte er. »Man
nimmt überhaupt keine Rücksicht«, sagte der Gerichtsdiener, »sehen Sie nur
hier das Wartezimmer.« Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte
Türen zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Obwohl kein
unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, denn
manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher
Bretterwände bloße, allerdings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die
einiges Licht drang und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte,
wie sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die
Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil
Sonntag war, nur wenig Leute auf dem Gang. Sie machten einen sehr
bescheidenen Eindruck. In fast regelmäßigen Entfernungen voneinander
saßen sie auf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des
Ganges angebracht waren. Alle waren vernachlässigt angezogen, obwohl die
meisten nach dem Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen,
kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten den höheren Klassen
angehörten. Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten sie die Hüte,
wahrscheinlich einer dem Beispiel des anderen folgend, unter die Bank
gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener
erblickten, erhoben sie sich zum Gruß, da das die Folgenden sahen, glaubten
sie auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehen der beiden sich
erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt,
die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein
wenig hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: »Wie gedemütigt die
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155