Seite - 69 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 69 -
Text der Seite - 69 -
Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehenbleiben zu können, aber K.
ließ ihn nicht, »du bist verwandelt, du hattest doch immer ein so richtiges
Auffassungsvermögen, und gerade jetzt verläßt es dich? Willst du denn den
Prozeß verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du einfach
gestrichen wirst. Und daß die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder
wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch
zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man
dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben: ›Einen solchen
Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben‹.«
»Lieber Onkel«, sagte K., »die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner
Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Prozesse
nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich
deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da
du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in Mitleidenschaft gezogen
würde - was ich für meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber
Nebensache -, so will ich dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt
halte ich selbst in deinem Sinn nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht
und Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt,
kann aber auch selbst die Sache mehr betreiben.« »Richtig«, sagte der Onkel
in einem Ton, als kämen sie jetzt endlich einander näher, »ich machte den
Vorschlag nur, weil ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner
Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt, wenn ich statt deiner für
dich arbeitete. Willst du es aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es
natürlich weit besser.« »Darin wären wir also einig«, sagte K. »Und hast du
jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst machen soll?« »Ich muß mir
natürlich die Sache noch überlegen«, sagte der Onkel, »du mußt bedenken,
daß ich jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen auf dem Lande bin,
dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach. Verschiedene wichtige
Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier vielleicht besser auskennen,
haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf dem Land ein wenig verlassen,
das weißt du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst bei solchen
Gelegenheiten. Zum Teil kam mir deine Sache auch unerwartet, wenn ich
auch merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas Derartiges ahnte und
es heute bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist
gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.« Schon während
seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend, einem Automobil gewinkt
und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief,
K. hinter sich in den Wagen. »Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld«, sagte
er, »er war mein Schulkollege. Du kennst den Namen gewiß auch? Nicht?
Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als Verteidiger und Armenadvokat
einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe besonders zu ihm als Menschen großes
69
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155