Seite - 71 - in Der Prozeß
Bild der Seite - 71 -
Text der Seite - 71 -
Mädchen, da der Onkel, ohne sich aufzuhalten, auf eine Tür zueilte. K.
staunte das Mädchen noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die
Wohnungstür wieder zu versperren, es hatte ein puppenförmig gerundetes
Gesicht, nicht nur die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die
Schläfen und die Stirnränder. »Josef!« rief der Onkel wieder, und das
Mädchen fragte er: »Es ist das Herzleiden?« »Ich glaube wohl«, sagte das
Mädchen, es hatte Zeit gefunden, mit der Kerze voranzugehen und die
Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers, wohin das Kerzenlicht
noch nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht mit langem Bart. »Leni, wer
kommt denn?« fragte der Advokat, der, durch die Kerze geblendet, die Gäste
nicht erkannte. »Albert, dein alter Freund ist es«, sagte der Onkel. »Ach,
Albert«, sagte der Advokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, als
bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung. »Steht es wirklich so
schlecht?« fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand. »Ich glaube es
nicht. Es ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehen wie die
früheren.« »Möglich«, sagte der Advokat leise, »es ist aber ärger, als es
jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich an
Kraft.« »So«, sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner großen
Hand fest aufs Knie. »Das sind schlechte Nachrichten. Hast du übrigens die
richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange her,
seit ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir freundlicher. Auch dein
kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig, oder sie verstellt sich.« Das
Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der Tür; soweit ihr
unbestimmter Blick erkennen ließ, sah sie eher K. an als den Onkel, selbst als
dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel, den er in die Nähe des
Mädchens geschoben hatte. »Wenn man so krank ist wie ich«, sagte der
Advokat, »muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig.« Nach einer kleinen
Pause fügte er hinzu: »Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav.« Den Onkel
konnte das aber nicht überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin
voreingenommen, und wenn er auch dem Kranken nichts entgegnete, so
verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie jetzt zum Bett
hinging, die Kerze auf das Nachttischchen stellte, sich über den Kranken
hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die
Rücksicht auf den Kranken, stand auf, ging hinter der Pflegerin hin und her,
und K. hätte es nicht gewundert, wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt und
vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des
Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen, dem Eifer, den der
Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte er sich nicht entgegenstellen
können, die Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er
gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur in der Absicht, die Pflegerin zu
beleidigen: »Fräulein, bitte, lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit
meinem Freund eine persönliche Angelegenheit zu besprechen.« Die
71
zurück zum
Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155