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entzückt, sowohl von der Art der Rede des Kanzleidirektors als auch von den
sanften, wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K.,
der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar mit
Absicht vollständig vernachlässigt und diente den alten Herren nur als
Zuhörer. Übrigens wußte er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an
die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren
hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehen hatte,
vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn er
sich auch vielleicht täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den
Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit den
schütteren Bärten, vorzüglich eingefügt.
Da ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer, wie von zerbrechendem Porzellan,
alle aufhorchen. »Ich will nachsehen, was geschehen ist«, sagte K. und ging
langsam hinaus, als gebe er den anderen noch Gelegenheit, ihn
zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer getreten und wollte sich im
Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit der er die Tür noch festhielt,
eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.s Hand, und die Tür leise schloß. Es
war die Pflegerin, die hier gewartet hatte. »Es ist nichts geschehen«, flüsterte
sie, »ich habe nur einen Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie
herauszuholen.« In seiner Befangenheit sagte K: »Ich habe auch an Sie
gedacht.« »Desto besser«, sagte die Pflegerin, »kommen Sie.« Nach ein paar
Schritten kamen sie zu einer Tür aus mattem Glas, welche die Pflegerin vor
K. öffnete. »Treten Sie doch ein«, sagte sie. Es war jedenfalls das
Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht sehen konnte, das
jetzt nur einen kleinen, viereckigen Teil des Fußbodens an jedem der drei
großen Fenster erhellte, war es mit schweren, alten Möbelstücken
ausgestattet. »Hierher«, sagte die Pflegerin und zeigte auf eine dunkle Truhe
mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah sich K. im
Zimmer um, es war ein hohes, großes Zimmer, die Kundschaft des
Armenadvokaten mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubte, die
kleinen Schritte zu sehen, mit denen die Besucher zu dem gewaltigen
Schreibtisch vorrückten. Dann aber vergaß er dies und hatte nur noch Augen
für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne
drückte. »Ich dachte«, sagte sie, »Sie würden von selbst zu mir
herauskommen, ohne daß ich Sie erst rufen müßte. Es war doch merkwürdig.
Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an und dann ließen
Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni«, fügte sie noch rasch und
unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser Aussprache versäumt
werden. »Gern«, sagte K. »Was aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist
sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten Herren
anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nicht
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Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155