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Vorteil«, sagte Leni. »Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht
den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?« »Einen körperlichen
Fehler?« fragte K. »Ja«, sagte Leni, »ich habe nämlich einen solchen kleinen
Fehler, sehen Sie.« Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand
auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten
Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie
ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste.
»Was für ein Naturspiel«, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt
hatte, hinzu: »Was für eine hübsche Kralle!« Mit einer Art Stolz sah Leni zu,
wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und
zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. »Oh!« rief
sie aber sofort, »Sie haben mich geküßt!« Eilig, mit offenem Mund erkletterte
sie mit den Knien seinen Schoß. K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt, da sie
ihm so nahe war, ging ein bitterer, aufreizender Geruch wie von Pfeffer von
ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß
und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. »Sie haben mich
eingetauscht!« rief sie von Zeit zu Zeit, »sehen Sie, nun haben Sie mich
eingetauscht!« Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf
den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten, und wurde zu ihr
hinabgezogen. »Jetzt gehörst du mir«, sagte sie. »Hier hast du den
Hausschlüssel, komm, wann du willst«, waren ihre letzten Worte, und ein
zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehen auf den Rücken. Als er aus dem
Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehen,
um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte aus
einem Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner
Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn bei den Armen und
stieß ihn gegen das Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. »Junge«, rief er,
»wie konntest du nur das tun! Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war,
schrecklich geschadet. Verkriechst dich mit einem kleinen, schmutzigen Ding,
das überdies offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst
stundenlang weg. Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts,
nein, bist ganz offen, läufst zu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen
wir beisammen, der Onkel, der sich für dich abmüht, der Advokat, der für
dich gewonnen werden soll, der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr,
der deine Sache in ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen
beraten, wie dir zu helfen wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln,
dieser wieder den Kanzleidirektor, und du hättest doch allen Grund, mich
wenigstens zu unterstützen. Statt dessen bleibst du fort. Schließlich läßt es
sich nicht verheimlichen, nun, es sind höfliche, gewandte Männer, sie
sprechen nicht davon, sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich
nicht mehr überwinden, und da sie von der Sache nicht reden können,
verstummen sie. Wir sind minutenlang schweigend dagesessen und haben
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155