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in solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um Rat, und
hinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind. An diesem
Fenster hätte man manche Herren, von denen man es am wenigsten erwarten
würde, antreffen können, wie sie geradezu trostlos auf die Gasse hinaussahen,
während der Advokat an seinem Tisch die Akten studierte, um ihnen einen
guten Rat geben zu können. Übrigens könne man gerade bei solchen
Gelegenheiten sehen, wie ungemein ernst die Herren ihren Beruf nehmen und
wie sie über Hindernisse, die sie ihrer Natur nach nicht bewältigen können, in
große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei auch sonst nicht leicht, man
dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihre Stellung nicht für leicht ansehen. Die
Rangordnung und Steigerung des Gerichtes sei unendlich und selbst für den
Eingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor den Gerichtshöfen sei aber
im allgemeinen auch für die unteren Beamten geheim, sie können daher die
Angelegenheiten, die sie bearbeiten, in ihrem ferneren Weitergang kaum
jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssache erscheint also in ihrem
Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie kommt, und sie geht weiter,
ohne daß sie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man aus dem Studium
der einzelnen Prozeßstadien, der schließlichen Entscheidung und ihrer Gründe
schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit jenem Teil
des Prozesses befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist, und wissen von
dem Weiteren, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit, meist weniger
als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum Schluß des Prozesses
mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in dieser Richtung also
können sie von der Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wundere sich
K. noch, wenn er alles dieses im Auge behalte, über die Gereiztheit der
Beamten, die sich manchmal den Parteien gegenüber in - jeder mache diese
Erfahrung - beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt, selbst
wenn sie ruhig scheinen. Natürlich haben die kleinen Advokaten besonders
viel darunter zu leiden. Man erzählt zum Beispiel folgende Geschichte, die
sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guter, stiller Herr,
hatte eine schwierige Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben
des Advokaten verwickelt worden war, einen Tag und eine Nacht
ununterbrochen studiert - diese Beamten sind tatsächlich fleißig, wie niemand
sonst. - Gegen Morgen nun, nach vierundzwanzigstündiger, wahrscheinlich
nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging er zur Eingangstür, stellte sich dort in
Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe
hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und
berieten, was sie tun sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen
Anspruch darauf, eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den
Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch
hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder
nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel
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Buch Der Prozeß"
Der Prozeß
- Titel
- Der Prozeß
- Autor
- Franz Kafka
- Datum
- 1926
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 158
- Schlagwörter
- Roman, Literatur, Schriftsteller, Prozess
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1: Verhaftung - Gespräch mit Frau Grubach - Dann Fräulein Bürstner 5
- Kapitel 2: Erste Untersuchung 25
- Kapitel 3: Im leeren Sitzungssaal - Der Student - Die Kanzleien 37
- Kapitel 4: Die Freundin des Fräulein Bürstner 54
- Kapitel 5: Der Prügler 60
- Kapitel 6: Der Onkel - Leni 65
- Kapitel 7: Advokat - Fabrikant - Maler 80
- Kapitel 8: Kaufmann Block - Kündigung des Advokaten 116
- Kapitel 9: Im Dom 138
- Kapitel 10: Ende 155